Nashville oder Das Wolfsspiel (German Edition)
der
Kelter
nicht. Die Zeiten, in denen hier Wein gekeltert worden war, waren lange vorüber, jetzt stand er in dezent erleuchteten Flaschen hinter der Bar. Eine Innentreppe führte sie hoch zu einer Galerie, und dort oben wuchs neben niedrigen Tischen eine Reihe von Ledersofas, die sehr einladend aussahen.
Friedel ließ sich auf eines von ihnen fallen und zog seine Regenjacke aus. Er gab Svenja seinen Strickpullover. Darunter trug er eines der unmöglichen Batik-T-Shirts.
»Bitte sehr«, sagte er. »Ein absolut trendiges Minikleid im Woll-Look.«
Sie nahm den Pullover mit auf die Toilette, über eine seltsam verwinkelte Stahlbrücke mitten durch die schwindelnde Höhe, auf der auch die Galerie lag. Dahinter gab es noch mehr Stufen, die zur Toilette hochführten. Die ganze Kneipe war ein Labyrinth, und als Svenja zurückging, kam sie über eine andere Treppe unten neben der Bar heraus. Sie sah zur Galerie empor, wo Friedel am Geländer lehnte und sie beobachtete. Sie fragte sich, was er sah. Was sie alle in ihr sahen: Mitbewohnerin, Bettgefährtin, hilflose Studentin, Mutter, große Schwester …
Sie war nichts von alledem. Sie war ein kleines Mädchen in einem knielangen Wollpullover, der ihr nicht gehörte, über dem Arm nasse Sachen, die ihr ebenso wenig gehörten. Verloren in einer Welt, die ihr nie gehören würde. Ein sehr müdes kleines Mädchen.
Als sie wieder auf dem Sofa saß, reichte Friedel ihr eine Bierflasche, und sie trank.
»Wo warst du?«, fragte sie schließlich.
»In der Uni«, sagte er, beinahe entschuldigend. »Ich habe mal wieder für dich in einem Seminar unterschrieben.«
»Danke. Das meine ich nicht. Wo warst du heute
Nacht
? Du bist noch mal weg, kurz nach mir. Nashville hat dich gesehen. Und du bist bis morgens nicht wiedergekommen. Von wo aus bist du zu dem Seminar gegangen?«
Friedel drehte nachdenklich seine Bierflasche in den Händen. »Von meinen Großeltern. Denen mit dem schiefen Garten. Ich bin noch ein bisschen spazieren gegangen, nur so, und beim alten Friedhof gelandet … Sie wohnen nur da die Straße hoch. Die Tür ist immer offen. Sie haben ein Gästezimmer. Mehr eine Abstellkammer. Abstellkammern bei Großeltern machen erstaunlich nüchtern. Man sollte das Prinzip vermarkten …«
»Friedel«, sagte Svenja. »Der Junge, der mit Nancy unterwegs war, ist tot.«
Friedel nickte langsam. »Ich weiß, Svenja. Ich weiß.«
»Und ich habe den ganzen Nachmittag auf einer blöden Grillparty verbracht, zu der ich eigentlich gar nicht wollte«, sagte Svenja. »Er ist tot, und ich gehe Würstchen grillen. Er wird nie wieder Würstchen essen. Er wird nie wieder das Wolfsspiel spielen.«
»Hey, hey«, sagte Friedel und streichelte vorsichtig ihren Rücken. »Es ist furchtbar, aber es wird wieder gut.«
»Komisch«, sagte Svenja, »aber das glaube ich gar nicht.«
Sie trank ihr Bier und sah hinüber zum nächsten Sofa. Dort saß ein anderes Pärchen, um Jahrmillionen älter. Sie saß eigentlich nicht, sie lag, den Kopf auf seinen Knien. Auf dem kleinen Tisch stand etwas, das nicht nach Bier aussah, sondern nach Tee oder heißer Zitrone. Sie redeten, über irgendetwas, das Svenja nicht verstand. Vielleicht über Belangloses. Vielleicht über den Regen. Sie waren nicht schön, diese beiden, aber da war etwas in der Art, wie sie sich ansahen.
Sie fragte sich, ob sie je mit irgendwem so dasitzen würde wie diese beiden dort. Ob sie je aufhören würde, sich zu suchen, und ob sie dann jemand anderen fände. Mit dem man heiße Zitrone trinken konnte statt Bier – und glücklich sein.
Und dann legte sie sich ebenfalls aufs Sofa und bettete ihren Kopf in Friedels Schoß. Als sie die Hand hob und über sein Gesicht strich, wurden ihre Finger feucht.
»Heulst du?«
»Möglich«, sagte Friedel. »Ich kannte ihn ja auch. Alles gerät … irgendwie … außer Kontrolle. Nicht nur das Studium. In meiner Erinnerung sind zu viele schwarze Löcher. Ich weiß zum Beispiel nicht mehr, was er an dem Wolfsabend gesagt hat. Der Typ, der jetzt tot ist. Ich habe sogar seinen Namen vergessen.«
»Nein«, sagte Svenja. »Er hat ihn uns nie verraten.«
»Ich finde ihn«, flüsterte Friedel. »Den, der das gemacht hat. Es nützt dem Jungen im Wehr nichts mehr, natürlich …«
Sie zog ihn zu sich herunter und küsste ihn. Und sie hielten sich den ganzen Abend lang fest. Manchmal muss man sich gegenseitig trösten, selbst dann oder gerade dann, wenn man weiß, dass man nie zusammen
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