Nashville oder Das Wolfsspiel (German Edition)
Boden tropfen. Niemand sagte etwas, nur das Gemurmel der Gäste weiter weg war zu hören.
Juliettas Vater legte Nashville eine schwere Hand auf die Schulter.
»Junger Mann«, sagte er, seine Stimme tief und ruhig und befehlsgewohnt. »Lass die Scherben los. Du tust dir weh. Was soll denn das?«
Er versuchte, mit der anderen Hand Nashvilles Finger zu lösen. Eine der Scherben ragte zwischen den Fingern hervor, scharf wie ein Messer. Nashville zog die Hand weg, holte aus und ließ sie durch die Luft wirbeln. Dann drehte er sich um und rannte.
Juliettas Vater griff sich an den Hals und fluchte. Ein langer Schnitt lief quer von seinem linken Ohr bis hinunter zum rechten Schlüsselbein. Die Wunde war oberflächlich, das Blut, das an seinen Fingern klebte und in einzelnen kleinen Tropfen aus der Haut trat, war dunkel und venös. Svenja atmete auf und wusste gleichzeitig, dass dies kein Grund zum Aufatmen war. Sie sah die Dinge von da an wie in einem Kaleidoskop, sich drehend, verwirrend: Sie sah Nashville über die Wiese rennen. Sie sah eine Sternschnuppe und vergaß, sich etwas zu wünschen. Sie sah die erschrockenen Augen der Zwillinge. Die bunten Lampions. Die scharfe Glasscherbe, die Nashville hatte fallen lassen und die nun im Gras lag, glitzernd und funkelnd wie ein Juwel. Sie sah Julietta eine Hand vor den Mund legen, sah Gunnar von irgendwo herbeistürzen. Zuerst schien es, als wollte er Nashville nachrennen, doch dann nahm er stattdessen Julietta in die Arme, als müsste er sie vor etwas schützen.
Nashville rannte weiter, rannte aus Svenjas Kopfkaleidoskop hinaus und kletterte wieselflink den dicksten, ältesten Baum im Garten hinauf, der am Ufer des Flusses stand.
Svenja ging ihm langsam nach.
»Nashville?«, rief sie in die Äste des Baumes hinauf. Und sie erinnerte sich an einen anderen Baum und daran, wie Friedel Nashville aufgefangen hatte. Dieser Baum war um ein Vielfaches höher, ein Riese von einem Baum. Sie legte den Kopf in den Nacken und sah, wie Nashville in die Krone kletterte.
»Nashville!«
Svenja drehte sich zu den anderen um. Sie standen in einer geschlossenen Reihe beim Haus und sahen sie an, ihre Augen blank vor Unverständnis und Furcht.
»Er … er kriegt manchmal plötzlich Panik!«, rief Svenja. »Es ist, weil …«
Sie brach ab. Juliettas Vater hatte sich mehrere Papierservietten geschnappt und sie auf die Wunde an seinem Hals gepresst. Das Blut suppte durch.
»Er ist verrückt«, hörte sie irgendwen sagen. »Völlig übergeschnappt. Wie alt ist überhaupt die Mutter?«
»Das ist nicht seine Mutter«, sagte jemand anders. »Sie hat ihn irgendwo auf der Straße gefunden, oder? Nils hat das gesagt … Er ist ein kleiner Wilder.«
Die Zwillinge sagten etwas auf Italienisch, das sich anhörte, als wollten sie widersprechen.
Nashville war jetzt bis zum höchsten Punkt geklettert, bis dahin, wo die Äste zu dünn wurden. Er war nur noch ein Schemen in der beginnenden Nacht. Er wartete nicht, bis die Äste brachen. Diesmal nicht. Diesmal sprang er.
Sie sah ihn fallen. Eine kleine, kompakte Dunkelheit, die aus dem uralten Baum fiel. Zwanzig Meter hoch, zwanzig Meter tief.
Sie schloss die Augen und versiegelte sie mit ihren Händen.
Aber jemand berührte sie an der Schulter, und diesmal war es eine Frauenhand.
»Svenja«, sagte Julietta leise. »Er ist nur in den Fluss gefallen.«
Svenja und Gunnar waren die Ersten unten am Ufer. Gleich nach ihnen kamen die Zwillinge an. Die anderen folgten zögernd.
Eines der Zwillingsmädchen zeigte auf die nächtlichen Wellen. Und da sah Svenja Nashvilles Kopf daraus auftauchen.
»Das habe ich noch nie erlebt«, murmelte Juliettas Vater hinter ihr. »Noch nie … Ich habe nur gesagt, er soll die Scherben loslassen … Warum hat er das Glas mit den Limetten zerdrückt? Ich hätte nie gedacht, dass ein Kind genug Kraft dazu hat …«
»Er kann nicht schwimmen«, sagte Svenja.
Sie sprang schon, während sie es sagte.
Und in dem Moment, in dem sie ins Wasser eintauchte, das erschreckend kalt war, wusste sie es. Sie wusste, was es war, das Nashvilles Panikanfälle auslöste, und warum er in der Dusche einen bekommen hatte, damals, in der Wohnung am Jakobusplatz. Und später, im Haus Nummer drei. Und bei Katleen in der Wohnung, die eine Küche war.
Limetten.
Limettenshampoo. Limetten auf einem Schneidebrett. Zerdrückte Limetten in einem Glas.
Der Geruch von Limetten brachte Nashville zurück in die Nacht auf dem Österberg, in
Weitere Kostenlose Bücher