Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Nashville oder Das Wolfsspiel (German Edition)

Nashville oder Das Wolfsspiel (German Edition)

Titel: Nashville oder Das Wolfsspiel (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Antonia Michaelis
Vom Netzwerk:
eine Weile in der Küchentür und betrachtete ihn. Und für einen Moment wünschte sie, er würde sich in Luft auflösen und sie könnte sich einfach auf ihr Bett fallen lassen, ohne über sein Abendessen nachzudenken, und einfach zu Partys in besetzten Häusern gehen.
    Dann hob er eines der bemalten Blätter hoch, eines mit grünen Linien, und plötzlich sah Svenja, was es war.
Es war etwas.
Es waren alle Nerven des Armes. Jede einzelne Abzweigung war da, genau wie im Anatomie-Atlas. Das Blatt daneben, voller roter Linien, zeigte die Arterien, das mit den blauen Linien die Venen.
    »Du bist schon ein komisches Kind«, murmelte Svenja, und er fuhr herum. Er hatte sie zuvor nicht bemerkt. Einen Augenblick stand wieder das große, dunkle Entsetzen in seinen Augen.
    »Dachtest du«, fragte Svenja, »ich wäre jemand anders? Komm, wir machen Pfannkuchen.«

4 Sessel
    Sie ging hin.
    Sie kämpfte drei Tage lang mit sich, aber dann ging sie hin.
    Der Freitagabend waberte lau durch die Straßen, und sie ließ sich von ihm tragen wie von einem sanften Fluss.
    Das sonnengelbe Fahrrad fuhr beinahe von selbst. Nashville lag zu Hause unter dem Bett, abgefüttert mit Butterbroten, versorgt mit Saft, Svenjas Taschenlampe und ihrem Histologiebuch, das er selbst ausgesucht hatte.
So könnte es gehen: Ich lebe ein bisschen, ab und zu, und er liest meine Bücher.
    In den kalten Schatten der Unterführung kauerten ein paar Penner. Sie war verdammt abgebrannt, sie konnte ihnen nichts geben. Sie nahm die Brücke über die Bahngleise. Mitten darauf stand ein alter Herr, eine Papiertüte in der Hand, und streute ab und zu etwas hinunter in die Tiefe: Brotkrümel.
    »Was …
machen
Sie da?«, fragte Svenja und bremste neben ihm.
    Der alte Mann sah auf. Es war derselbe grauweiß-langhaarige alte Mann, den sie schon zweimal gesehen hatte. Na prima, dachte sie, sie nahm die Brücke, um den Pennern nicht zu begegnen, und wem begegnete sie …? Immerhin hatte er keine Mütze vor sich liegen, die Münzen von ihr forderte. Zu seinen Füßen standen mehrere Plastiktüten, aus denen seine heutige Sammlung an Pfandflaschen ragte.
    »Ich?«, fragte er, griff in die Tüte und streute mehr Krümel in den Wind. »Ich füttere Züge.«
    »Wie?«, fragte Svenja verwirrt.
    Der alte Mann beugte sich übers Geländer, schnalzte mit der Zunge und rief: »Koo-omm!«
    Unten setzte sich ein ICE in Bewegung, glitt langsam durch das Abendblau auf die Brücke zu, fuhr unter ihr durch, gewann an Geschwindigkeit und war fort.
    »Sie sind immer so stürmisch«, sagte der alte Mann und seufzte. »Fressen im Laufen, und dann laufen sie weiter, und weg sind sie. Aber das ist mit allen Dingen so. Verschwinden, sobald man sie einen Moment lang aus den Augen lässt.«
    »Die Zeit«, murmelte Svenja. »Mit der Zeit ist das auch so …«
    Er hörte ihr nicht zu. »Diese Frau zum Beispiel«, sagte er. »Taucht aus dem Nichts auf, zuerst, und dann – einen Moment lang aus den Augen gelassen – weg. Wollte zum Österberg hoch, weil da Wald ist, glaub ich, hatte es mit Natur. Vielleicht ist sie auch in einen Zug gestiegen, um wieder in ’ne andere Stadt zu fahren … Hat noch gesagt ›Bis morgen‹. Aber das sagen sie alle, die, die verschwinden: ›Bis morgen‹ …«
    Er griff wieder in seine Tüte, er hatte Svenja schon vergessen, und sie stieg ab und schob das Rad langsam über die Brücke.
    Worüber hatte er geredet?
    Der Zug, der in der dunstigen Freitagabendferne verschwunden war, hinterließ in ihrem Kopf eine seltsame Sorte wattierter Melancholie. Einer dieser Züge fuhr vielleicht in Richtung Leipzig.
    Sie fand eine Zigarette in der Tasche. Auf der Mikrowelle in ihrer Wohnung lehnte noch immer der Umschlag ihrer Mutter; eine kleine Reserve von Zuhause. Svenja hatte nicht ein einziges Mal angerufen oder gemailt, seit sie hier war. Auf einmal fragte sie sich, ob sich ihre Eltern eigentlich Sorgen machten und ob sie sich so anfühlten wie ihre Sorgen um Nashville – oder eher wie die wattierte Melancholie des ICE s.
     
    Das Haus starrte grau und dreistöckig in den Himmel, wie ein Felsen, an den eine Brandung aus Dämmerungswellen schlug. An seinem Fuß wuchs ein Fliedergebüsch, das die Treppe, die an der Seite zum Eingang führte, beinahe ganz überschwemmte. Von drinnen quoll gelbrotes Licht ins Freie.
    Svenja schloss ihr Rad am Zaun an, fand die Tür angelehnt und betrat ein Chaos aus Schuhen und Jacken, teilweise über zwei nackte Schaufensterpuppen

Weitere Kostenlose Bücher