Nashville oder Das Wolfsspiel (German Edition)
drapiert. Von oben schwappte Musik die alte Holztreppe hinunter. Am Rand der Stufen brannten Kerzen in Weinflaschen. Svenja zuckte zusammen, als die Bässe die Treppe samt Kerzenflaschen erzittern ließen.
Sie streifte ihre Schuhe ab und ging die Treppe hinauf. Das Haus hatte eine Menge unübersichtliche Räume, die einerseits kahl waren und anderseits vollgestopft. Aus den Wänden hingen lose Kabel, hier und da still vereint mit Fetzen herabtropfender Tapete. In einem Raum stapelten sich zerbrochene Stühle bis unter die Decke, in einem anderen hatte jemand eine Koffersammlung angelegt. Einige Koffer hingen an der Decke. Zwischen einer Handvoll Teelichtern und den am Boden befindlichen Koffern knutschte ein Pärchen. Svenja konnte sich nicht gegen die Vision wehren, wie das Pärchen samt Teelichtern mit an die Decke genagelt wurde – ein lebendes Kunstprojekt.
Sie durchquerte einen Flur und fand die Quelle der Musik – ein riesiges Zimmer, dessen Wände mit indischen Tüchern verkleidet waren. Davor standen Plüschsessel in verschiedenen Stadien des Zerfalls, und in der Mitte, auf einem Brett über zwei Holzböcken, thronte die Anlage, hinter der jemand – der DJ ? – auf einem Stapel aus Bierkisten saß. Auf den Fensterbrettern flackerten weitere Kerzen.
Die Luft war angefüllt mit menschlichen Schatten, sie bewegten sich in der dröhnenden Musik, hielten Flaschen in Händen und Kippen in Fingern, unterhielten sich trotz des Gedröhnes – und
lebten.
Svenja stieg in den Raum wie in ein warmes Bad, wurde zu einem der Schatten und merkte, wie die Ordentlichkeit gleich Schnee von ihren Schultern rieselte und im Beben der Fußbodenbässe schmolz. Sie schloss die Augen und spürte den Rhythmus, der aus den Lautsprechern pulste. Ihr Körper begann, sich von selbst zwischen den Klängen zu bewegen.
Und alles außerhalb des Hauses Nummer drei verschwand.
Friedel hatte recht gehabt. Es war gut gewesen, zu kommen.
Irgendwann ließ sie sich auf einen der Sessel fallen, außer Atem und plötzlich glücklich. Eine Flasche Bier landete in ihrer Hand, sie wusste nicht einmal, wie. Das Bier war warm, aber immerhin flüssig. In diesem Moment sprang jemand auf die Spanholzplatte, auf der auch die Anlage stand, was zu einem merkwürdig abgewürgten Protest der Musik führte. Dann erstarben die Bässe, und der auf dem Tisch schrie: »Ausweiskontrolle!«
Die Schatten verstummten.
»Nein«, sagte der Tischspringer, »wollte ich sagen, ist Zeit für feiern den Geburtstagskind. Wird es genau in diese Minute eine Jahr älter! Prost!« Es war selbstverständlich Kater Carlo, und jetzt hob er ein Glas, etwas zu schwungvoll, die Hälfte schwappte auf den Tisch, und der Typ hinter der Anlage fluchte. »Karl, komm runter da«, knurrte er.
»Sofort«, sagte Kater Carlo. »Zuhören! Gibt es unten in die Küche Caipi! Einladung von unsere Thierry!«
Damit krabbelte er vom Tisch und schnappte sich Thierry, der neben ihm gestanden hatte. Er hob ihn auf seine Schultern, rief: »Klatschen!« – und alle klatschten. Dann begann das Gedränge nach unten.
Nur Svenja blieb in ihrem Sessel sitzen. Der halbdunkle Raum, leer und jetzt erfüllt von leiser Nicht-Tanz-Musik, hatte etwas Merkwürdiges. In einem Sessel an der anderen Wand saß noch jemand. Friedel. Er hob eine Hand und winkte wie über die Weiten eines Ozeans. Dann stand er auf, kam zu ihr herüber und strich sich die lästige vorderste Rastalocke aus dem Gesicht.
»Und? Gefällt’s dir?«
»Herzlichen Glückwunsch«, sagte Svenja.
»Wie?
Ich
habe nicht Geburtstag!«
Sie schüttelte den Kopf. »Herzlichen Glückwunsch, dass du es geschafft hast, mich zur Unordnung zurückzubekehren. Es ist … schön hier. Komisch, aber schön. Ich mag euer Haus.«
Friedel nickte, schnappte ihr die warme Bierflasche weg, trank einen Schluck und schüttelte sich. »Der Caipi ist sicher besser. Wir haben ungefähr hundert Limetten aufgeschnitten und einen Rieseneisblock mit dem Hammer in Stücke gehauen. Kater Carlo fand, es wäre einfacher, mit dem Auto darüberzufahren.« Er lachte.
»Aber?«
»Aber wir haben kein Auto.«
Svenja nickte. »Was machen die alle? Thierry? Und Kater Carlo?«
»Thierry macht Germanistik. Ist auf Austausch aus Frankreich. Kater Carlo macht Kunst. Hast du Hunger? Unten gab es so etwas wie ein Buffet. Alle haben irgendwas mitgebracht …«
Er griff unter Svenjas Sessel und beförderte eine Schale hervor. »Hier sind noch welche von den Pfannkuchen …
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