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Nashville oder Das Wolfsspiel (German Edition)

Nashville oder Das Wolfsspiel (German Edition)

Titel: Nashville oder Das Wolfsspiel (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Antonia Michaelis
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kamen in kleinen, anfallartigen Wasserfällen, vereinzelt zunächst, ein oder zwei Wortwasserfälle am Tag, dann mehr.
    Svenja legte den Boden mit Zeitungen aus, und sie strichen. Mehrfach, um das Rot und das Schwarz ganz zu verstecken. Und es waren eine Menge Wände. Zwischendurch besuchte Svenja ihre Kurse (manche), und so strichen sie letztlich eine ganze Woche. Sie arbeiteten still nebeneinanderher, rollten ihre Gedanken in weißen Farbbahnen auf die Tapete – und ab und zu kam ein Wortwasserfall.
    »Es ist einfach mit dieser Rolle, nur die Buchstaben in den Zeitungen auf dem Fußboden, die sind im Weg. Die bleiben nicht unten liegen, immer sind sie in meinen Augen. Ich habe zu wenig Buchstaben und zu viele, ist das nicht komisch, das ist wie mit den Menschen, da habe ich auch zu wenig und zu viele. Sind Buchstaben wie Menschen?«
    »Ich weiß nicht«, sagte sie.
    Und dann setzte sie sich hin und machte mit ihm Worte aus den Buchstaben, die er kannte, damit sie aufhörten, ihn anzuspringen, und er Ordnung hineinbekam.
    NASE
.
SIE
.
VIEL
.
LIES
.
NASS
.
    »Ich habe keine Angst vor der Dusche.« Ein weiterer Wortwasserfall, einen Tag später. »Nur vielleicht ein ganz bisschen. Es war etwas anderes, aber ich weiß nicht, was, und der Spiegel ist falsch im Bad, es wäre besser, wenn er einen umgekehrt spiegeln könnte.«
    Einzelne Worte und Sätze fielen zwischen den Wasserfällen wie Regentropfen: Gute Nacht. Kann ich ein zweites Brot? Geh nicht noch mal weg. Okay. Geh ruhig. Guten Morgen.
    Auf gewisse Fragen antwortete er nie.
    »Was war bei Katleen? Warum bist du vor ihr weggelaufen?«
    Nashville drehte sich um und tauchte den Pinsel in die Farbe.
    An den Abenden saßen sie zu zweit am offenen Fenster und ließen den Chemiedunst der Farbe an sich vorüberziehen, hinaus. Fliegen müsste man können, dachte Svenja, über den Jakobusplatz fliegen wie diese Geruchsschwaden …
    »Wie sieht er aus, Nashville? Der Typ, der deine Mutter … verletzt hat? Was ist passiert in dieser Nacht?«
    Sie hätte sich die Mühe sparen können, die richtigen Worte zu finden. Er antwortete sowieso nicht. Darauf nicht.
    Einmal kam Friedel nach dem Histo-Kurs mit hinauf in die Wohnung, er strich eine ganze Wand, und Nashville schwieg. So sehr, dass Friedel vermutlich glaubte, Svenja hätte ihn angelogen, als sie erzählt hatte, er würde jetzt sprechen.
    Irgendwann sagte Svenja: »Vielleicht ist es besser, du gehst wieder.«
    Und Friedel zuckte die Achseln und ging. Sie küsste ihn unten auf der Straße, vor dem Holunderstrauch, als eine Art Entschuldigung.
    »Lass stecken, schon gut«, sagte Friedel.
    Nashville stand auf der Treppe, als Svenja wieder hereinkam.
    »Küssen hört sich immer an wie ein Tier, das ganz alleine und sehr schnell etwas Giftiges frisst«, sagte er.
    Svenja seufzte. »Sinnvolle Sätze werden überbewertet«, murmelte sie.
    Und dann kam sie am nächsten Tag von der Nachklausur Histologie, die sie vielleicht bestanden hatte und vielleicht nicht, und wollte die letzte Wand der Küche zum letzten Mal überstreichen. Die mit den Fenstern. Sie öffnete die Küchentür.
    Die Wand
war
gestrichen.
    Und Nashville war weg.
    Er war die ganze Woche über nicht verschwunden, außer manchmal in seine eigenen Gedanken. Svenja sah im Bad und unter dem Bett nach, im Küchenschrank und im Schlafzimmerschrank. Dann kehrte sie zurück in die Küche und starrte wieder die leuchtend weiße Wand an.
    Da bewegte sich etwas zwischen den beiden Küchenfenstern. Sie zuckte zusammen. Ein Teil der weißen Wand drehte sich einfach um. Und grinste.
    Er war die ganze Zeit über da gewesen. Er hatte die Wand zu Ende gestrichen und dann sich selbst, mit dem Rest der Farbe, und sie hatte es nicht gemerkt. Sie lächelte über den kindischen Streich. Aber er sah sie an und war plötzlich ernst.
    »Es war sehr spät nachts, aber noch nicht Morgen«, sagte er. »Sie hat ihn nach Geld gefragt. Ich hab ihr gleich gesagt, dass sie das lassen soll, nachts im Wald, wer gibt dir da schon Geld? Sie hat nicht auf mich gehört. Hat sie nie. Nachts haben die Leute gute Laune, hat sie gesagt, nachts feiern sie. Er hat nicht geredet, nur den Kopf geschüttelt. Das Messer war scharf. Es war eigentlich kein Messer, es war ein Degen oder Dolch oder so was, da war Licht vom Mond, und der Dolch hat geglitzert, und gezischt hat er auch, als er ihn durch die Luft geschwungen hat: Sssssssscht! Sssssscht! Ich saß hinter dem Holzstapel, da war so eine Plane drüber

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