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Nashville oder Das Wolfsspiel (German Edition)

Nashville oder Das Wolfsspiel (German Edition)

Titel: Nashville oder Das Wolfsspiel (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Antonia Michaelis
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Vielleicht war’s das, was ihn den Kopf gekostet hat. Musste sich immer wichtigmachen. Wie die Ohnmachtsanfälle, die er gekriegt hat, auch so ’n Ding von ihm. Umfallen da, wo viele Leute sind. Kamen immer gleich ’n paar Medizinstudenten angelaufen. Beine hoch! Was trinken! Sollen wir die Sanis rufen? Die Sanis, die sind schon gar nicht mehr gekommen. Der hatte ja nie was.«
    »Auch kein Herz«, sagte Nashville. »Das hat er in einem Zug wegfahren lassen, hat er mir erzählt. Es sollte bei irgendwem ankommen. Aber jemand hat auf der nächsten Brücke gestanden und den Zug vergiftet, und da ist er entgleist, und das Herz ist zerquetscht worden. Einmal hab ich mein Ohr an seine Brust gelegt, da war es ganz still.«
    »Ohne Herz kannst du tausend Jahre alt werden«, sagte der Junge zwischen den Zeilen. »Nichts verkalkt, nichts bleibt stehen. Aber mit einem so tiefen Schnitt im Hals …«
    »Wer war das?«, flüsterte Svenja.
    »Ich hatte gehofft«, sagte der Junge zwischen den Zeilen, »du könntest uns das sagen.«
    Nancy fing an,
Country Roads
zu spielen, und der Junge zwischen den Zeilen begann zu singen.
    Country Roads, take him home
    to the place he belongs.
    West Virginia, Mountain Mama,
    take him home, country roads.
    Nashville spielte die Melodie auf dem Akkordeon mit.
    Svenja spürte die Blicke der anderen Leute. Man darf keine leeren Flaschen in den Neckar werfen, sagten die Blicke tadelnd, und was soll das Gesinge? Sie fiel mit in das Lied ein und fühlte, wie Nashville sich ganz leicht an sie lehnte. Und dann sagte Nancy: »Fuck, jetzt muss ich heulen. Der kommt ja nicht wieder. Ich hab ihn scheißlange gekannt, ein ganzes halbes Scheißleben.«
    Sie sangen weiter, und da sang noch jemand, hinter ihnen.
    Svenja drehte sich um. Es waren die Helden aus dem Haus Nummer drei: Friedel, Thierry und Kater Carlo. Sie kletterten auf die Mauer, als wäre es die selbstverständlichste Sache der Welt. Kater Carlos Bass trug die Worte, spanisch akzentuiert, weit über das Wasser des Neckars.
    Schließlich warf der Junge zwischen den Zeilen die letzte Flasche. Danach ließ er die Tüten hinabsegeln, lange geliebte, viel benutzte Plastiktüten. Mehr hatte der Zugfütterer nicht besessen. Die Pappe, auf der er geschlafen hatte, hatte die Polizei mitgenommen. Sie sahen schweigend zu, wie der gesamte Besitz eines Lebens mit der langsamen Strömung davontrieb.
    »Friedel?«, fragte Svenja schließlich. »Ich dachte, du hast Schicht bis elf?«
    Friedel zuckte die Schultern. »Bin doch krank geworden. Ergab sich so.«
    »Wir wollten ihn besuchen in seinem Meckermüller«, sagte Thierry. »Aber er hat gesagt, wir müssen los und nach dir sehen, er macht sich Sorgen.«
    »Er hat nicht aber gesagt, dass wir auf ein Beerdigung gehen«, fügte Kater Carlo entschuldigend hinzu. »Sonst hätte ich angezogen eine schwarze Sache.«
    Die letzte weiße Tüte verschwand unter der Brücke, es war, als winkte sie noch einmal.
    Da stieß Friedel sich ab und ließ sich von der Mauer fallen. »Warte!«, rief Thierry und ließ sich ebenfalls fallen, und Kater Carlo sagte: »Er muss gerettet werden, natürlich«, und folgte ihm.
    Die sanfte Strömung trug die drei mit sich, in den Abend hinein.
    Svenja schüttelte den Kopf über die Chaoten.
    Dann sprang sie ihnen nach.
    Als sie hochkam, landete Nashville neben ihr. Er ruderte wild mit den Armen, erreichte Svenja und klammerte sich an ihre Schultern. Auf der Mauer blieben nur Nancy und der Junge zwischen den Zeilen zurück, in der Mitte das Akkordeon, das Nashville sich sicher später wiederholen würde.
    Sie schwamm den anderen nach, flussabwärts, mit einem Löwenkind auf dem Rücken.
    Wohin wollen wir? Friedel? Kater Carlo? Thierry? Wohin?
    Aber es war unwichtig.
     
    Das Wehr fing sie auf. Die Flaschen und die Tüten würden das Meer also nie sehen, sie würden im Gitter vor dem Wehr hängen bleiben. Jenseits des Gitters fiel der Fluss über eine breite Betonstufe in die Tiefe. Das Häuschen mit dem Stellwerk, das mitten auf der schmalen Wehrbrücke stand, sah die Schwimmer mit strengen Augen an.
Macht, dass ihr rauskommt
, sagte es.
Hier endet die Abendromantik, dieses Wehr funktioniert mit schwäbischer Gründlichkeit und kann keine Leute gebrauchen, die darin hängen bleiben wie Plastiktüten. Da ist das Ufer
.
    »Kommt!«, rief Friedel und schwamm voran, auf die Böschung zu.
    »Ich glaube, langsam erwürgst du mich«, sagte Svenja und reckte ihren Hals, um Nashvilles Krallenhänden

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