Nashville oder Das Wolfsspiel (German Edition)
unpassenden Gürtels im Sonnenlicht glänzen. Das Messer steckte nicht mehr darin.
Schließlich entließ der Wald sie wieder in die Sonne, und der Weg schlängelte sich bergauf, durch eine Puppenhauslandschaft voller Apfel- und Birnbäume. Der Hang war zu steil. Sie stiegen von den Rädern, um zu schieben. Es gab ein Ziel, irgendwo, einen Biergarten in einer Burg,
Hohenentringen,
aber niemand hatte es eilig. Sie tranken Saft aus einem Tetrapack.
»Wir sind ganz alleine«, sagte Svenja. »Ganz alleine in einem Bilderbuch.«
Sie legte das gelbe Fahrrad ins Gras und bückte sich, um mit der Hand durch die Halme zu streichen.
»Radfahren wird überbewertet«, sagte Friedel. »Lass uns zu Fuß gehen. Mitten durch das Bilderbuch.«
Thierry und Kater Carlo sahen sich an, ließen ihre Räder fallen und rannten los, gleichzeitig, mitten in das Meer aus Gras hinein. Thierry war schneller und wendiger, Kater Carlo gab das Rennen bald auf. Sie wateten zu dritt durch das hüfthohe Hellgrün, er und Friedel und Svenja, Hand in Hand in Hand.
»Du könntest das hier malen«, sagte Svenja.
»Das? Kitsch«, sagte Kater Carlo abschätzig. »Könnte ich höchstenfalls aufhängen umgekehrt, dann ich verkaufe wie echte Baselitz und werde reich. Oder ich werfe auf Leinwand Messer, und ist es eine Happening.«
»Wirf Löffel«, sagte Svenja leise. »Ich hab in letzter Zeit was gegen Messer.«
Aber Kater Carlo hörte nicht mehr zu, er war wieder losgerannt, denn vor ihnen saß Thierry in den Ästen eines Apfelbaumes und winkte. Er kletterte noch ein wenig höher. Seine Bewegungen erinnerten Svenja plötzlich an Nashville. Auch wie er sich jetzt vom Baum fallen ließ … Katzen landen immer auf den Füßen. Kater Carlo packte ihn wie etwas, das er gefangen hatte, und dann geriet die Sache außer Kontrolle, Hände lösten Kleidung, T-Shirts waren überflüssig. Svenja war sich nicht sicher, wer wen unter die ausladenden, weit herabhängenden Äste des Baumes zog. Das Gras und die Blätter verbargen nicht genug; sie sah das eilige Umeinander der Körper, nackt jetzt, sie dachte an die Muskeln der Arme und Beine und ihre abstrusen lateinischen Namen …
Friedel zog an ihrer Hand und nickte in die andere Richtung.
»Es gibt mehr Obstbäume«, flüsterte er.
Svenja zögerte.
Sie wäre gerne noch einen Moment stehen geblieben, reine Beobachterin. Doch dann ließ sie sich ziehen. Der Baum, den sie fanden, bildete ein abgeschlossenes grünes Zimmer, viel privater als das von Thierry und Kater Carlo. Zikaden lärmten im Gras.
Svenja zog ihr Hemd sehr langsam aus und breitete es ins Gras wie ein helles Laken. Dann schlang sie Friedel ihre Arme um den Hals und zog ihn mit sich hinab. Dies war das erste Mal, dachte sie, dass sie das hier im Hellen taten.
Einen Moment lang kniete Friedel nur über ihr und sah sie an.
»Du siehst so traurig aus«, flüsterte sie. »Es ist doch schön hier, oder nicht?«
Er nickte. Dann schloss er die Augen, und Svenja schloss sie ebenfalls, sie hörte nur die Zikaden, den Wind in den Blättern und den Gesang von tausend kleinen Vögeln. Irgendwo spazierte eine Ameise über ihren Arm, und neben ihrem linken Fuß wuchs höchstwahrscheinlich eine Brennnessel, aber sie konnte sich jetzt nicht darum kümmern, sie schlang ihre Beine um den Körper über sich und fühlte ihn in sich. Gunnar, dachte sie, solange sie die Augen nicht öffnete, konnte es jemand anders sein, es konnte Gunnar sein, und dieser Gedanke machte die ganze Sache aufregend und neu.
Sie fragte sich, ob sie in Friedels Kopf auch jemand anders war, aber vermutlich war sie nur sie selbst, denn Friedel war immer noch verliebt. Sie konnte ihm nicht helfen, sie konnte sich nicht zwingen, ihn zu lieben – alles, was sie tun konnte, war das hier.
Und das hier war gut.
Sie gewann den Wettlauf um einen Höhepunkt, öffnete die Augen einen Moment früher als Friedel und sah in die Äste des Apfelbaumes hinauf, wo die grünen Blätter ein dichtes Dach woben. Ihr Blick glitt von den Ästen zu den Schultern und Oberarmen, die den Körper stützten, mit dem sie sich immer noch zusammen bewegte. An der linken Schulter gab es etwas Rotes. Einen Schnitt, kurz und tief, die Ränder leicht entzündet. Da waren noch zwei Schnitte am rechten Oberarm – und dann wurde sie von zu viel plötzlicher Kraft ins Gras gedrückt, um weiterzusuchen. Friedel öffnete die Augen, außer Atem. Svenja lag ganz still.
»Friedel?«, fragte sie. »Was sind das für
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