Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Nashville oder Das Wolfsspiel (German Edition)

Nashville oder Das Wolfsspiel (German Edition)

Titel: Nashville oder Das Wolfsspiel (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Antonia Michaelis
Vom Netzwerk:
Wenn jemand fragte, würde sie sagen, er sei ihr kleiner Bruder. Niemand fragte. Der Pfarrer sah von dem Blatt Papier auf, das er hielt – keine Bibel in Sicht. Er nickte ihnen zu, freundlich. Resigniert. Svenja fragte sich, wie viele Leute er hier oben auf dem Bergfriedhof schon beerdigt hatte. Er musste den Tod so satthaben.
    »Wir wissen nicht, woher du kamst«, begann er, »doch wir wissen, wohin du gehst. Du gehst ein in das Reich Gottes. Gott, unser Herr, halte deine Hand über Sirja, die in den Straßen dieser Stadt gelebt hat, ohne ein Heim, ohne Familie. Sei du ihre Familie. Sei du ihr Vater und Mutter, sei du ihr Kind.«
    Nashville griff nach Svenjas Hand und drückte sie einen Moment lang so fest, dass es wehtat. Er nahm sich zusammen, sie wusste es. Er nahm sich zusammen, um nicht zu diesem fremden Menschen zu rennen und ihm die Wahrheit zu sagen.
    »Vater unser im Himmel«, begann der Pfarrer, und Svenja fiel mit ein: »Geheiligt werde dein Name.«
    »Dein Reich komme«, sagte Friedel.
    »Dein Wille geschehe«, sagte der Junge zwischen den Zeilen.
    Svenja fragte sich, wie es kam, dass er das Vaterunser kannte. Als sie sich einmal kurz umdrehte, sah sie eine weiße Gestalt zwischen den Bäumen stehen, ein ganzes Stück weit weg. Sie blinzelte, doch die Gestalt verschwand nicht.
    Stattdessen tauchte noch eine zweite Gestalt auf. Die beiden schienen Fangen zu spielen, kamen schwerelos näher in ihrem Spiel – und dann erkannte Svenja sie: Es waren die dunkellockigen, mandeläugigen Feenkinder aus dem Boot. Juliettas Cousinen. Hinter ihnen tauchte Julietta auf, offenbar bemüht, die beiden einzufangen. Irgendjemand aus ihrer Familie lag hier begraben, dachte Svenja, und sie besuchten ihn. Es war ein Zufall.
    »Und führe uns nicht in Versuchung …«
    Noch jemand trat hinter den Bäumen hervor, die Hände in den Taschen, ein wenig unschlüssig. Gunnar. Sie konnte die Gedanken in seinem Gesicht nicht lesen.
    Jetzt flatterten die Feenkinder davon; ihr helles Lachen perlte durch die Luft wie Tautropfen, und Julietta drehte sich um und verschwand mit ihnen, noch immer auf Feenjagd.
    Gunnar blieb stehen wie etwas Vergessenes, Angespültes. Sein Blick wanderte über die Menschen am Grab: Friedel, der wieder die lästige Rastalocke aus der Stirn strich, Kater Carlo und Thierry, die Hand in Hand dastanden, Nancy, die sich an den Jungen zwischen den Zeilen klammerte in seinen zerrissenen Jeans. Der Blick glitt auch über Svenja und blieb an Nashville hängen.
    »Wie im Himmel«, sagte der Pfarrer. »So auf Erden. Amen.«
    Gunnar machte einen Schritt vor.
    Jetzt würde er herüberkommen, dachte Svenja, und »Herzliches Beileid« zu Nashville sagen, und zu Nancy würde er sagen, dass sie sich ausruhen solle, statt hier herumzulaufen.
    Er kam nicht. Er nickte ihr zu, ganz kurz, drehte sich um und ging.
    Als sich die kleine Gesellschaft auflöste, blieben nur Nashville und Svenja neben dem einfachen Holzkreuz stehen; Nashville und Svenja und der Pfarrer.
    »Ich habe eine Menge über diese Geschichte nachgedacht«, sagte er schließlich leise. »Wer ist so grausam, jemanden mit einem Taschenmesser zu erstechen? Ich begreife es nicht. Der andere, der in der Unterführung, ist auf die gleiche Weise gestorben. Ich kannte ihn gut. Wer ist so grausam?«, wiederholte er mit einem Seufzen. »Wissen Sie es?«
    »Nein«, sagte Svenja.
    In diesem Moment kam noch jemand über den Friedhof gerannt, jemand in einem zu großen, grauen T-Shirt, das über eine Schulter hinabgerutscht war: Katleen. Svenja hatte ihr einen Zettel in den Briefkasten geworfen und darauf den Umzug erklärt und alles andere auch – Katleen selbst war nicht zu Hause gewesen.
    Sie kam völlig außer Atem bei ihnen an, nahm Nashvilles Hand und drückte sie. »Ich habe … eben erst mitgekriegt, dass ihr hier seid«, sagte sie, nach Atem ringend. »Und ich habe … etwas mitgebracht, was man als Leichenschmaus benutzen kann. Oder als Picknick.«
    Katleen wirkte an diesem Tag seltsam unkompliziert. Eine Weile hatte Svenja sie gemieden, vielleicht auch weil es ihr peinlich gewesen war, dass Nashville vor ihr geflohen war, nachdem sie geholfen hatte, ihn gesund zu pflegen. Diesmal floh er nicht. Er erwiderte den Händedruck auf sehr erwachsene Art und sah sie an.
    »Danke«, sagte er leise. »Das ist nett von dir.«
    Und dann griff er ganz plötzlich in die Tasche, zog etwas hervor – einen Streifen, den er entzweiriss. Fotos. Automatenfotos. Er trat nach

Weitere Kostenlose Bücher