Nashville oder Das Wolfsspiel (German Edition)
vorne und legte blitzschnell eines der Fotos auf die frische Erde, drehte sich um und rannte.
Svenja bückte sich gleichzeitig mit Katleen und dem Pfarrer.
Das Foto, unscharf und in seltsam verfälschten Farben, zeigte einen sehr viel jüngeren Nashville mit einer Frau. Sie sah dem Zeitungsfoto nicht sehr ähnlich, aber sie war es, keine Frage: Sirja, die Löwin. Sie hatte ihren Kopf auf Nashvilles Kopf gelegt und einen Arm um ihn geschlungen, sie sahen mit ihren identischen Dunkelaugen in die automatische Kamera, und keiner von ihnen lächelte.
Svenja fragte sich, wo Nashville die Fotos die ganze Zeit über aufbewahrt hatte. Waren sie von Hosentasche zu Hosentasche gewandert, ein geheimer Schatz?
Der Pfarrer griff langsam in seine eigene Tasche und holte eine Rolle Tesafilm hervor. Dann hob er das Foto auf und klebte es sehr sorgfältig in die Mitte des Holzkreuzes.
Einen Moment lang standen sie zu dritt davor, still, und betrachteten es.
»Sie wissen mehr als ich«, sagte der Pfarrer.
»Nein«, sagte Svenja. »Leider nicht.«
»Aber wer …?«, fragte der Pfarrer.
»Kümmert sich um ihn?«, fragte Svenja. »Meinen Sie das?«
»Alle«, sagte Katleen. »Alle hier. Svenja am meisten.«
Sie legte einen Arm um Svenjas Schultern, und Svenja merkte, dass ihr Gesicht nass war.
»Sie können auch zu mir kommen, wenn Sie etwas brauchen«, sagte der Pfarrer und zog eine Visitenkarte hervor. Svenja steckte sie ein. »Das ist … Danke«, sagte sie. »Aber hätten Sie stattdessen wohl ein Taschentuch?«
Katleen hatte eines; ein altmodisches, hellblaues Stofftaschentuch. Und es war Katleen, die daran dachte, dem Pfarrer noch etwas zu sagen, ehe er sein resigniertes Gesicht mitnahm und ging.
»Sie haben den Jungen nie gesehen«, sagte sie, leise, sehr eindringlich, ließ Svenja los und trat einen Schritt auf den Pfarrer zu. »Sie wissen nicht, dass er existiert, klar? Sie haben keine Ahnung, wer das auf dem Foto ist oder wer es aufgehängt hat.«
»Nein«, sagte der Pfarrer, nicht eingeschüchtert. »Ich weiß nicht, dass der Junge existiert. Aber ihr, die Kümmerer, wer seid ihr?«
»Nur ein paar unwichtige Studenten«, antwortete Katleen. »Vergessen Sie uns auch.«
»Schon vergessen«, sagte der Pfarrer und drehte sich um, um zu gehen.
Svenja legte ihren Kopf an Katleens Schulter. Von irgendwoher klangen die Töne eines Akkordeons durch die Luft, und Katleen sang leise mit:
Da sagten wir Auf Wiederseh’n.
Wie gerne wollt’ ich mit dir geh’n,
mit dir, Lili Marleen.
Sie trafen die anderen am Ausgang des Friedhofs wieder. Nashville saß dort auf einem Grabstein und hatte seine Melodie gerade beendet. Er sah so erschöpft aus wie nach einem Tausendmeterlauf. Auf seinem Gesicht waren keine Tränenspuren. Vielleicht hatte Svenja seine Tränen geweint.
»Lass uns einen Ausflug machen«, sagte Friedel und legte einen Arm um Svenjas Schulter. »Wir können alle ein bisschen Ablenkung gebrauchen.«
Ablenkung. Ja, dachte Svenja. Nein! Keine Ablenkung jetzt. Sie musste nachdenken.
Wer ist so grausam, jemanden mit einem Taschenmesser zu erstechen?
Ein Taschenmesser.
»Fahren wir raus nach Hohenentringen«, sagte Kater Carlo. »Wollten wir schon hin neulich, aber kam dazwischen zu viele Obstbäume.« Er grinste fröhlich zu Thierry hinüber. »Ihr kommt?«
Diesmal saß Nashville auf Kater Carlos Gepäckträger. Er hielt den ganzen Weg über das Akkordeon im Arm wie ein riesiges prähistorisches Insekt. Die Apfel- und Birnbäume lagen still in der Sonne, und als der Weg zu steil wurde, schoben sie die Räder wieder.
Svenja sah, wie Thierry und Kater Carlo sich anstießen, als sie die Stelle erreichten, an der ihr Ausflug beim letzten Mal ungeplant geendet hatte.
»Wir haben etwas hier vergessen, glaube ich«, sagte Thierry. »Wir müssen nachsehen, ob es noch da ist.«
»Wir kommen nach kleine Verspätung«, fügte Kater Carlo hinzu und setzte sein katerhaftes Grinsen auf, dem man nichts verbieten konnte.
Sie verschwanden durchs hohe Gras, ließen sich vom flirrenden Sonnenspiel der Blätter und Äste schlucken, und Friedel seufzte, als sie ihre Räder weiterschoben.
»Was haben sie vergessen?«, fragte Katleen.
»Den letzten Rest Schamgefühl«, sagte Svenja.
Sie dachte an das grüne Zimmer unter dem Obstbaum zurück und an die Schnitte in Friedels Oberarmen. Vor der Beerdigung war sie durch das ganze Haus Nummer drei gegangen, um sich umzusehen. Sie hatte kein einziges eingeschlagenes
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