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Natascha

Natascha

Titel: Natascha Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Heinz G. Konsalik
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macht keinen Unsinn! Wann ist Luka weggegangen …?«
    Er wartete die Antwort nicht ab. Er sah nur verblüffte Gesichter und ungläubig aufgerissene Mäuler. Da rannte er hinaus und alarmierte den diensthabenden Arzt, der wenig später mit zerrauften Haaren über den Korridor stürzte.
    Waleri Tumanow saß in seinem Büro und korrigierte die schriftlichen Arbeiten seiner Musikschüler. Nicht nur auf das Singen legte er Wert, sondern auch die allgemeine Bildung flocht er in seinen Unterricht mit ein. Es genügte nicht, eine Arie von Puccini zu singen, man mußte auch wissen, wer dieser Puccini war, wie und wo er gelebt hatte und aus welchem Geist heraus seine Opern entstanden waren.
    Das Heftekorrigieren tat er gern. Es schenkte ihm Ruhe und Beschaulichkeit und führte ihn in die Phantasie seiner Schüler ein. Und so war es in der Akademie bekannt, daß im I. Stock, Zimmer 15 – 19, Ruhe zu herrschen hatte, wenn Waleri Tumanow die Hefte durchsah.
    Um so erstaunter war Tumanow, als seine Sekretärin in das Arbeitszimmer trat und ziemlich verwirrt an der Tür stehenblieb. Sie sah aus, als habe sie soeben einen Gruselfilm gesehen.
    »Da ist jemand«, sagte sie heiser vor Erregung. »Der will vorsingen –«
    »Das ist doch ein Witz, Elena …«, sagte Tumanow. Seit vierzig Jahren war er Gesanglehrer, und nie hatte jemand vor ihm gesungen, ohne daß er ihn dazu aufgefordert hätte.
    »Ich habe ihn nicht abweisen können, Genosse Professor.« Die Sekretärin Elena schluckte die Tränen herunter. »Unmöglich ist's. Sie werden es einsehen, wenn … Gedroht habe ich ihm, die Polizei wollte ich rufen … Was tut er? Er reißt das Telefon aus der Wand –«
    Waleri Tumanow sprang auf. »Dem werde ich es zeigen!« schrie er. Seine Greisenstimme zitterte. Er wollte um seinen Schreibtisch herumrennen, aber ein riesiger Schatten verdunkelte die Tür, es stampfte, daß die Dielen zitterten, und ein Berg kam ins Zimmer und knallte mit einer abgebrochenen Latte die Tür hinter Elena zu, die schreckensbleich flüchtete.
    »Wer will hier etwas zeigen, Genosse?« brüllte eine Stimme. »Wie einen Floh nehm' ich dich auf den Fingernagel!«
    »Luka –«, sagte Tumanow schwach. Er sah den Riesen an, und sein Blick glitt an ihm herunter. Einen Lazarett-Schlafanzug trug er, das Hosenbein des zertrümmerten Beines war hoch über dem Knie abgeschnitten. Auf der haarigen, rötlichen Haut klebten noch Stücke des abgeschlagenen Gipses. Auf zwei Latten stützte sich Luka, und obgleich das verletzte Bein durch die Streckung nun gleich lang mit dem gesunden war, wagte er doch nicht, mit ihm aufzutreten. Mit dem Rücken lehnte er gegen die Wand und hatte das Kinn gegen den Hals gepreßt, wie ein Stier, der sich in der Arena umsieht, ehe er den staubigen Boden stampft.
    »So bist du gekommen?« fragte Tumanow. »Hat man dich nicht angehalten?«
    »Wer soll mich anhalten, he?« Luka reckte sich.
    »Unten, der Akademiewächter …«
    »Ein Jüngelchen ist's, Genosse Waleri.« Luka grinste breit. »Er schläft in einer Ecke der Halle. In die Hosen machte er, als er mich sah.«
    Tumanow ging seufzend zu seinem Schreibtisch zurück. Er wagte nicht zu denken, was auf dem Weg Lukas zur Akademie alles geschehen war. Noch früh genug würde man's erfahren.
    »Was willst du?« fragte er, als er den Schreibtisch zwischen sich und dem Urwelttier hatte.
    »Vorsingen, Genosse Tumanow …«
    »Was?« Tumanow setzte sich, als habe man seine Beine weggezogen. Er fiel auf den Stuhl.
    »Vorsingen. Wie Natascha, mein Täubchen.« Luka stützte sich schwer auf die beiden Latten. »Studiert habe ich es, im Lazarett. Ich kann Noten lesen, Genosse!«
    »Das ist doch Wahnsinn, Luka!« Tumanow schluckte mehrmals, ehe er weitersprach. Unbegreiflich ist es, dachte er. Ein singendes Fossil! Welche Töne mögen es sein, die aus diesem Riesentrichter von Brust quellen? Können es überhaupt noch Töne sein?
    »Ich habe die Noten studiert!« schrie Luka. Er holte aus der Tasche seiner Schlafanzugjacke einige zerknüllte, schmutzige, fettige Notenblätter und warf sie Tumanow zu. »Ich will singen, und du wirst mich ausbilden, Genosse!«
    »Aber Luka –«, stammelte Tumanow. Er starrte auf die abgegriffenen Noten und auf die Titel, die ihm entgegenschrien.
    Stenka Rasin … Abendglocken … Reiter vom Don … Das Hirtenmädchen … Kosakenpatrouille … Das Lied vom Roten Stern …
    Luka stampfte an den Schreibtisch. Ehe es Tumanow verhindern konnte, legte er seine rechte Hand

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