Natascha
ausgestreckt unter seinem Arm schwebte.
Högönö nickte.
»Ich soll Ihnen aus Moskau sagen, Genossin«, berichtete er, sich räuspernd, »Sie dürfen den Ingenieur Sedow heiraten …«
Das Konzert war ein Triumph. Die Oper von Gorkij hatte noch nie so viel berühmte Gäste gesehen und so viel Glanz an Uniformen und Orden wie an diesem Abend. Vor dem Portal standen in dichtgedrängten Reihen, von einer Kette Milizsoldaten zurückgehalten, die Bewohner Gorkijs und klatschten in die Hände, wenn ein bekannter Marschall vorfuhr oder ein Minister oder ein ›Verdienter Künstler des Volkes‹. Selbst bei Berija klatschten sie, innerlich ein wenig schaudernd bei dem Gedanken, den Mann so dicht vor sich zu sehen, der jeden von ihnen in ein Straflager oder nach Sibirien verbannen konnte.
Zum erstenmal stand Luka hinter einer Bühne, zwischen bemalter Pappe, Sperrholz, Leinwand, die nach Leim stank, herumirrenden Bühnenarbeitern und einem kleinen Mann, der hysterisch schrie und sich die Haare raufte und nahe einem Schlaganfall schien. Es war der Inspizient, und Luka, der teilnahmsvoll nach ihm fragte, wich ihm aus, weil er den Namen nicht aussprechen konnte.
Eine Aufregung war's, Freunde, man kann's kaum sagen. Als Kaganowitsch in der Loge erschien und die über tausend Menschen im Zuschauerraum klatschten und bravo schrien, jagte ein anderer Mann über die Bühne und trat die Bühnenarbeiter in das Gesäß, weil sie nicht schnell genug liefen. Zwar protestierten die Getretenen und brüllten, das sei eine Verletzung der proletarischen Würde, aber der aufgeregte Mann weinte plötzlich und zeigte auf einen leeren Fleck der Bühne.
»Wo ist der Tempel?!« heulte er. »In fünf Minuten geht der Vorhang hoch, und der Tempel fehlt! Wo ist der Tempel, ihr Mißgeburten?!«
Luka ließ sich sagen, daß dies der Regisseur sei. Der verantwortliche Mann für alles, was auf der Bühne geschah.
Die getretenen Bühnenarbeiter traten in einen Streik. Man tritt keinen Sowjetmenschen in den Hintern, nur weil Kaganowitsch in der Loge sitzt.
»Der Tempel!« schrie der Regisseur. »Wer holt den Tempel?! Genossen, verzeiht mir … aber auch ich habe nur Nerven …«
Da sich niemand mehr fand, der in die Nähe des Regisseurs gehen wollte, schleppte Luka freiwillig vier Säulen heran und einen Tempelfries, auf dem nackte Frauen und Männer einen Reigen tanzten.
»Ihr seid mir schöne Schweinchen!« sagte Luka blinzelnd, während die anderen Arbeiter den Tempel zusammensetzten.
»Das ist griechische Mythologie!« sagte der Regisseur, dankbar, daß Luka ihm geholfen hatte. »Die Heimkehr der Krieger …«
Luka starrte auf die nackten Frauen, die mit Blumengirlanden den nackten Männern entgegenzogen.
»Beschweren werde ich mich!« sagte er laut. »Man hat mich bei meiner Rückkehr um so was betrogen …«
»Bühne frei!« brüllte eine Stimme. Von den Beleuchtergalerien summten die Scheinwerfer auf. Vor dem dicken Vorhang hörte man, wie das Orchester die Instrumente stimmte. Irgendwo schellte es dreimal. Luka bekam einen Stoß in den Rücken. Der kleine Inspizient tanzte wie ein betrunkener Floh. Ulan Högönö erschien auf der Bühne. Er trug einen schwarzen Anzug und eine Reihe kleiner Orden auf den Revers.
»Alles in Ordnung?« fragte er.
»Alles!« rief der Regisseur.
Luka stampfte zurück in die Seitenkulisse. Dort stand Natascha bereits in einem langen, goldenen Kleid, mit einer Strahlenkrone aus blinkenden, kleinen Sternen auf den aufgelösten Haaren. Wie aus einem Märchenbuch sah sie aus. Sie sang erst im zweiten Bild ihre Königin der Nacht … jetzt, zu Beginn, war es eine Szene aus Idomeneo von Mozart. Ein junger, heller Tenor aus der Klasse I der Saratower Schule sollte vorgestellt werden.
Oben, im letzten Rang, saß Luka Nikolajewitsch Sedow und starrte auf den noch geschlossenen Vorhang. Högönö hatte ihm noch eine Karte geben können. Nun hatte er die Hände ineinander verschlungen und wartete auf den Auftritt Nataschas, auf das erste Aufleuchten eines Sterns, der einmal über die ganze Welt ziehen sollte.
Und dann sang sie, wie in den Wolken schwebend, von flimmerndem Nachtlicht umgeben, das ihre Sternenkrone aufleuchten ließ. Aber man sah dies alles nicht … nur die Stimme hörte man, diese perlenden Koloraturen, diese Klarheit der Töne, die funkelten wie die Facetten des Kristalls.
In der Seitenloge, neben den Marschällen und Volkskommissaren, saß Waleri Tumanow und lächelte still. Ich habe es
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