Natascha
zog unser kleiner Fedja auch fort ins Feld«, sagte er dabei. »Und kam nicht wieder –«
»Aber er wird wiederkommen! Jetzt ist ja Friede!«
Im Zimmer der weißen Villa lag auf dem Tisch ein Brief, als sie zurückkehrten vom Bahnhof. Högönö hatte ihn dorthin gelegt. Es war die Mitteilung, daß Natascha Tschugunowa übermorgen nach Khuzhir reisen möchte.
»Und ich?« fragte Luka.
»Von dir steht nichts in dem Schreiben.«
»Wie ungenau die Beamten sind! Ich werde es klären.«
Aber Luka lief sich den Gehgips ab, ohne zu erfahren, was aus ihm werden sollte. Högönö wußte es nicht, der Bürgermeister wußte es nicht, auch nicht der Kommissar des NKWD. Nur eines erklärte man Luka, daß nämlich ein unterer Beamter den Posten in der weißen Villa erhalten mußte, weil er einen Anspruch darauf habe.
»Es gibt viele Fabriken, Genosse«, sagte der Kommissar sogar. »Für den Wiederaufbau brauchen wir starke Arme, wie du sie hast. Du wirst übermorgen eine Anstellung im Traktorenwerk ›Maxim Gorkij‹ bekommen. Und ein Bett im Brigadelager wird sich auch finden lassen. Was sagst du nun, Genosse? In unserem Land gibt es keine Probleme mehr –«
Luka bedankte sich höflich und ging. Natascha traf ihn beim Packen an, als sie von der Gesangstunde zurückkam. Luka hatte eine Decke auf den Boden ausgebreitet und schichtete Wäsche, eingewickelte Wurst, ein Säckchen Hirse, ein Beutelchen Grütze und zwei Pakete Machorka säuberlich neben- und übereinander. Dann nahm er die Zipfel der Decke, band sie mit einem dicken Strick zusammen und schob einen derben Knüppel hindurch. Unter einem losen Dielenbrett hervor holte er seine alte Militärpistole und steckte sie in die Tasche.
»Was soll das, Luka?« fragte Natascha. »Hast du wieder eine Dummheit vor?!«
Luka drehte sich zu ihr um. In seinen Augen stand tiefe Trauer und ein schreiender kreatürlicher Jammer. »Ich werde eine kleine Reise tun, Täubchen«, sagte er stockend. »Nur für ein paar Tage … bestimmt. Allein muß ich dich lassen. Das ist schlimm, aber es wird sich ändern. Die Welt ist voller Narren, und sie glauben, daß Luka nur ein Tanzbär ist, der nach ihrem Pfeifchen hüpft.«
»Es ist also klar – du darfst nicht mit nach Khuzhir?«
»Nein, mein Täubchen.«
»Dann weigere ich mich, zu fahren!«
»Tu es nicht. Högönö ist nicht Tumanow. Ein gelber, grinsender, hinterhältiger Teufel ist er! Alles kommt von ihm! Umbringen würde er mich lassen, wenn's nötig wäre. Aber er kennt Luka nicht!«
»Und warum packst du? Wo willst du hin?« fragte sie.
»Ein bißchen nach Osten, Täubchen. Ich kenne nur ein Zipfelchen von Mütterchen Rußland … einen Teil vom Saum des Kleides … jetzt will ich zur Brust hinaufwandern.« Er lachte, aber es war ein heiseres, gequältes Lachen. »Du fährst morgen?«
»Ja. Ulan Högönö wird mitfahren.«
Luka nahm sein Bündel auf die Schulter. Aber plötzlich ließ er es fallen, umarmte Natascha und drückte sie vorsichtig an sich. Er streichelte ihren schmalen Kopf, küßte ihren Scheitel und herzte ihren Rücken.
»Nicht traurig sein«, sagte er, und seine Stimme schwamm in einem tiefen Wasser von Leid. »Nur wenige Tage sind's, glaub es mir. Sei tapfer, Täubchen.«
Er ließ sie los und trat einen Schritt zurück. Man sah, daß er zögerte, etwas zu tun, daß in ihm zwei Dinge rangen, die sich nicht vertrugen. Dann hob er die rechte Hand, seufzte tief und segnete Natascha in der Art der alten Bauern, wie sie früher ihre Töchter segneten, bevor sie in die Stadt gingen oder an der Seite ihres Mannes in ein anderes Dorf.
»Man kommt nicht davon los, verdammt!« brummte er, warf seine zusammengeschnürte Decke über die Schulter und tappte hinaus in die Nacht. Natascha sah ihn vom Fenster aus durch den Park gehen, am hohen Ufer der Wolga entlang, ein riesiger, hinkender Schatten, der sich vor den am Himmel treibenden Wolken mit den schwarzen Stämmen der Bäume vermischte und in die Dunkelheit wegglitt.
Am Morgen wachten die Lehrer und die Gesangschüler frierend auf. Die Öfen waren nicht geheizt, nicht einmal Holz genug war da, sie bis zum Mittag durchbrennen zu lassen.
»Wo ist Luka, der Idiot?« rief der Direktor der Akademie. Ulan Högönö klopfte bei Natascha an, nachdem er Lukas Bett unberührt gefunden hatte. Es war von allen Laken abgezogen, und die Bettwäsche fehlte.
»Was ist mit Luka?« fragte Högönö, kaum, daß er die Tür geöffnet hatte.
»Weg ist er.« Natascha blieb liegen.
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