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Natascha

Natascha

Titel: Natascha Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Heinz G. Konsalik
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kommt, wo einer sitzt, fragt man erst: Sind die anderen Plätze frei …?«
    »Das sieht man doch!«
    »Aber man fragt –«
    »Eine unnütze Arbeit ist's doch.«
    »Aber es ist höflich.«
    »Man muß sich's merken.« Luka kratzte sich den Kopf. Natascha hielt seinen Arm fest.
    »Auch das tut man nicht.«
    »Aber wenn es juckt, mein Täubchen?«
    »Man zeigt es nicht.«
    »Juckt's einem vornehmen Mann nie?«
    »Er überwindet es.«
    »Mit Kratzen?«
    »Nein. Mit Selbstbeherrschung!«
    Luka verstand es nicht im vollen Sinne. Er wußte eines nur: Nicht kratzen, nicht schneuzen, einen Platz nicht belegen, indem man den anderen einfach vom Stuhl hob und in die Ecke warf … Immer fragen, höflich sein … Ein schweres Leben stand bevor, er merkte es schon nach den ersten Lehrminuten.
    »Was ist, wenn einer mich beleidigt?« fragte er.
    »Du überhörst es einfach. Vor allem sprichst du wenig, verstanden? Nur, wenn man dich fragt.«
    Luka seufzte und wollte sich kratzen. Aber auf halbem Wege zum Kopf ließ er den Arm sinken.
    »Nein«, murmelte er. »Nein! Jetzt wird das Jucken auch noch klassifiziert –«
    In der Oper saßen Doroguschin und Tumanow allein im riesigen, dunklen Zuschauerraum. Das Orchester stimmte die Instrumente. Auch wenn die tausend Plätze leer waren, lag eine Spannung über allen wie vor einem Festabend im Beisein Stalins. Zum erstenmal war's, daß ein Orchester eine Oper spielte, vor leeren Plätzen und nur für eine einzige Sängerin, deren Namen niemand kannte und die aus der sibirischen Weite gekommen war. Ein zartes, schwarzhaariges Persönchen, eine Handvoll Menschlein nur, mit der man Mitleid haben konnte bei dem Gedanken, daß sie gleich allein auf der riesigen Bühne stehen mußte.
    In der Garderobe hockte Luka neben dem Schminktisch. Zum erstenmal sah er die Verwandlung eines Menschen in die Gestalt einer anderen Person. Die Chefmaskenbildnerin klebte künstliche Haare an, unter einer Perücke verschwanden die Locken Nataschas. Die Augenlider wurden blau, die Augen schwarz umrandet, der Mund blutrot, über die Nase, von der Wurzel bis zur Spitze, zog sich ein heller, fleischfarbener Strich …
    Natascha sah Luka durch den Spiegel an. Er hockte auf seinem Stuhl, mit mißmutigem Gesicht, und beobachtete das Schminken.
    »Na, wie ist's, Luka?« fragte Natascha. Luka wiegte den dicken Kopf.
    »Mir gefällt's nicht, Täubchen. Kaum erkennt man dich wieder.«
    »Ich bin jetzt nicht mehr Natascha, sondern Jaroslawna. Ich bin der Mensch, den ich singe und darstelle …«
    »Wer kann das begreifen?« brummte Luka und stand auf. »Ich bin immer Luka –«
    »Du dürftest auch nie etwas anderes sein, du lieber Idiot!« sagte Natascha. Sie sah wieder in den Spiegel. Die dicke Schminke verdeckte die Blässe, die über ihr lag. Angst hatte sie plötzlich, das, was man Lampenfieber nennt. Es war ihr, als könne sie keinen Ton mehr singen, als wachse ihre Kehle zu und verkrampfe sich ihr Mund. »Ich habe Angst, Luka«, sagte sie leise.
    »Ich auch, Nataschka –«
    »Du? Wovor?«
    »Es ist schrecklich, vornehm zu werden …«
    Wie eine Befreiung war's, wie eine Sprengung, die goldene Berge freilegt. Natascha lachte wieder, sie bog sich in den Hüften, und dann ging sie zu Luka, umarmte ihn und küßte ihn auf den breiten Mund.
    »Was wär ich ohne dich, du Bär?« lachte sie. »Wirklich … nur anzusehen brauch ich dich, und plötzlich weiß ich, daß alles wird in unserem Leben …«
    Über der Tür rasselte eine Klingel und ein rotes Lämpchen zuckte mehrmals auf.
    »Sie müssen gehen, Natascha Tschugunowa«, sagte die Maskenbildnerin.
    Luka seufzte wie ein Wasserbüffel. »Wenn sie dich wegschicken«, sagte er dumpf, »wenn sie dich nicht umarmen nach dem Singen, wenn sie … bei Gott, die Knöchelchen zerbrech ich ihnen allen …«
    »Es wird nicht nötig sein, du Idiot!« sagte Natascha laut.
    Dann lief sie hinaus, über den Gang zur eisernen Tür, die die Bühne von den Garderoben trennte.
    Anatoli Doroguschin hatte sich zurückgelehnt. Die Erinnerung an die Stimme Nataschas, auch wenn sie so weit zurücklag, war wieder gegenwärtig. Damals hatte er gesagt: Aus diesem Mädchen kann ein Stern werden. Aber er hatte ›kann‹ gesagt. Zu oft waren Versprechungen verklungen, und Doroguschin hatte Sänger gekannt, die mittelmäßig wurden, wenn man ihrer Stimme die Zügel von Vernunft und Können anlegte, wenn die Technik des Singens die naturhafte Begabung in eine harte Ordnung zwang.
    Der Vorhang

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