Natascha
sein hatte, drückte er Doroguschin seinerseits nicht an seine Brust, sondern begnügte sich damit, ihn in die Rippen zu stoßen und zu sagen: »Bekommen wir ab jetzt eine Künstler-Sonderlebensmittelkarte, Genosse?!«
Doroguschin hielt sich die Seite und glaubte, er sei aufgerissen. Er nickte stumm und humpelte in das Direktionszimmer. Dort standen auf einem langen Tisch Gläser mit perlendem Krimsekt, Schalen mit Gebäck, Obstkuchen und Brotschnitten mit geräuchertem, schwarzem Speck. Doroguschin hatte es in der Pause zum dritten Akt arrangiert. Aber auch den Gesundheitskommissar hatte er angerufen, und nun stand der Genosse aus dem Kreml inmitten der Festgäste, und neben ihm zwei Ärzte, unauffällig, als seien sie abgeschminkte Sänger.
»Ein Hoch auf die Tschugunowa!« rief Doroguschin enthusiastisch. Er hob sein Glas, stieß es gegen den Kelch Nataschas und sah gleichzeitig hinüber zu Luka. Der Riese stand am Büfett und fraß die Speckbrote auf. Eine alte Weisheit ist wahr, dachte Doroguschin. Mit Speck fängt man Mäuse … und wenn es ein solches Urwelttier ist wie Luka.
»Hoch! Hoch! Hoch!« riefen die Gäste. Luka brüllte mit und schwenkte eine Brotscheibe. Dann tranken sie, und Natascha war glücklich, stieß mit allen an und trank das Glas leer, und ein zweites, und ein drittes. Und dann sang sie ein altes Volkslied aus Kasan, das noch aus der Zeit der letzten Tataren stammte, bevor Zar Iwan der Vierte sie aus Kasan vertrieb.
Mitten im Liedchen begann ihre Stimme zu schwanken. Tumanow wurde blaß, er lehnte sich an die aufgebaute Tafel, und während ihm der kalte Schweiß über die Augen lief, starrte er auf Natascha, die mit aufgerissenen Augen die Hände gegen ihren Leib drückte.
Luka stieß einen Aufbau von Kuchen um und warf zwei Männer, die ihm im Wege standen, einfach zur Seite, auf die Erde. Zur rechten Zeit kam er … noch ehe die anderen begriffen, was geschah, fing er Natascha auf, hob sie in seine Arme und drückte sie an seine Brust.
»Einen Doktor!« brüllte er. »Euch alle werf ich an die Wand wie junge Katzen, wenn nicht ein Doktor kommt –«
Doroguschin sah hinüber zu dem Volkskommissar. Einer der unbekannten Ärzte trat vor und fühlte Natascha den Puls.
»Ein Krankenwagen steht unten … wir können sofort in die Klinik fahren –«
Niemand fiel es auf, daß keiner den Wagen gerufen hatte … er war einfach da, als sei es selbstverständlich, daß ein Krankenwagen vor einer Oper wartet. Auf den Armen trug Luka die ohnmächtige Natascha die Treppen hinab und legte sie vorsichtig auf die Bahre des Wagens. Dann kroch er daneben in den engen Raum, machte sich klein, hockte da wie ein bananenschälender Affe auf dem Boden und hielt Nataschas Hand, als sei es möglich, mit diesem Griff auch ihr Leben festzuhalten.
In der Klinik aber nahm man ihm Natascha weg. Sie wurde weggerollt in einen Gang mit undurchsichtigen, gläsernen Türen, und Luka wußte, daß dahinter die Operationsräume lagen. Er kannte es von seinem Bein her, und er hockte sich auf einen Schemel vor die große Glastür, faltete die Hände und betete mit monotoner Stimme.
Doroguschin und Tumanow, der Volkskommissar und ein anderer Vertreter der Regierung erschienen etwas später. Auch sie warteten auf dem Gang, rauchten Zigaretten und unterhielten sich leise. Abgesondert stand Tumanow an der weißen Wand. Sein altes Gesicht war gelbfahl. Wenn Doroguschin sich an ihn wandte, drehte er sich um und blickte wortlos weg. Doroguschin hob die Schultern und ging zurück zu den anderen.
Nach einer halben Stunde rollten die Ärzte und zwei Schwestern das zugedeckte, fahrbare Bett wieder aus dem OP-Trakt heraus. Natascha lag bleich, in tiefer Narkose, unter den Decken. Luka sprang auf und hielt das Bett an.
»Was hat sie, ihr Mißgeburten?!« schrie er. »Was habt ihr mit ihr getan?!«
»Der Blinddarm war's«, sagte der Arzt, der hinter dem fahrbaren Bett ging und der sie anscheinend operiert hatte. »Nur der Blinddarm, Genosse Volkskommissar! In zehn Tagen wird sie wieder singen können. Nur einen kleinen Schnitt brauchten wir machen –«
Doroguschin, der Volkskommissar und der unbekannte Mann aus dem Kreml nickten und zwinkerten mit den Augen. Luka streichelte über Nataschas schweißiges Gesicht.
»Nur der Blinddarm«, sagte er mit einer Zärtlichkeit, die niemand in diesem Berg aus Fleisch und Knochen vermutet hätte. »Ein dummer Blinddarm …« Er blickte hoch und sah sich um. »Bei ihr bleibe ich, bis sie
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