Nathalie küsst
wieder hingesetzt. Nun stand Nathalie ebenfalls auf. Eine Weile verharrten sie in dieser Stellung, versteift in Verunsicherung. Einige Köpfe wandten sich in ihre Richtung. Sich nicht weiter zu rühren, nachdem man schon aufgestanden ist, ist ein eher seltenes Phänomen. Es erinnerte ein bisschen an dieses Gemälde von Magritte, auf dem die Männer wie Stalaktiten vom Himmel fallen. Ihre Haltung wies also leichte Spuren belgischer Malerei auf, und damit gaben sie freilich nicht das ermutigendste Bild ab.
65
Markus ließ Nathalie stehen und verließ das Café. Der zur Perfektion getriebene Moment hatte ihn in die Flucht geschlagen. Sie verstand nicht, was ihn bewegte. Es war ein angenehmer Abend gewesen, aber das nahm sie ihm übel. Unwissentlich hatte Markus famos gehandelt. Er hatte Nathalie wachgerüttelt. Hatte sie dahin gebracht, dass sie sich nun Gedanken machte. Dass er sie küssen wolle, hatte er gesagt. Ging es also nur darum? Hatte sie Lust, ihn zu küssen? Nein, eigentlich nicht. Sie fand ihn nicht besonders … Aber darauf kam es ja nicht wirklich an … Warum nicht … Er hatte was … und außerdem war er lustig … Wieso war er denn gegangen? Was für ein Trottel. Er hatte alles verdorben.Sie war reichlich verärgert … Was für ein Trottel, wirklich, so ein Trottel, sinnierte sie unter den Blicken der Gäste im Café weiter vor sich hin. Eine wunderschöne Frau, sie, wurde von einem Durchschnittstypen einfach stehen gelassen. Von den Blicken, die sie auf sich zog, nahm sie gar keine Notiz. Sie blieb in ihrem Groll reglos stehen, frustriert von einer Situation, die sie überfordert hatte, in der sie es nicht vermocht hatte, ihn entweder zurückzuhalten oder ihm zu folgen. Sie brauchte sich nicht zu grämen, sie hätte nichts ausrichten können. Sie war in seinen Augen eben viel zu begehrenswert, als dass er in ihrer Nähe bleiben konnte.
Als sie zu Hause war, wählte sie seine Nummer, legte allerdings, noch bevor es klingelte, wieder auf. Es wäre ihr lieber gewesen, er hätte angerufen. Schließlich hatte sie ja schon die Initiative zur zweiten Verabredung ergriffen. Zumindest hätte er ihr danken können. Und eine SMS schicken. So saß sie vor dem Telefon und wartete, und es war das erste Mal seit sehr langer Zeit, dass sie das erleben durfte: zu warten. Sie konnte nicht schlafen, schenkte sich ein wenig Wein ein. Und stellte Musik an: Alain Souchon. Ein Lied, das sie gern mit François gehört hatte. Sie glaubte es kaum, aber sie war imstande, sich das anzuhören, einfach so, ohne einen Zusammenbruch zu erleiden. Sie zog weiter in ihrem Wohnzimmer ihre Kreise, tanzte sogar ein wenig und sog mit der Entschlossenheit eines Versprechens die Trunkenheit in sich auf.
66
Der erste Teil von
L’amour en fuite,
dem Lied von Alain Souchon,
das Nathalie nach ihrer zweiten Verabredung mit
Markus hörte
[ 1 ]
Caresses photographiées sur ma peau sensible.
On peut tout jeter les instants, les photos, c’est libre.
Y a toujours le papier collant transparent
Pour remettre au carré tous ces tourments.
On était belle image, les amoureux fortiches.
On a monté le ménage, le bonheur à deux je t’en fiche.
Vite fait les morceaux de verre qui coupent et ça saigne.
La v’là sur le carrelage, la porcelaine.
Nous, nous, on a pas tenu le coup.
Bou, bou, ça coule sur ta joue.
On se quitte et y a rien qu’on explique.
C’est l’amour en fuite,
L’amour en fuite.[ 2 ]
1 http://www.youtube.com/watch?v=T5fBz5TvRig
2 Auf meiner zarten Haut die photographierte Wonne.
Momente, Bilder, alles kann ab in die Tonne.
Es gibt ja noch durchsichtiges Klebeband.
Damit setzt man das Elend gleich wieder instand.
Wir warn ein schönes Bild, die tapferen Verliebten.
Haushaltsgründung, ein Glück zu zweien, das wir versiebten.
Geritzt, der Scherbenhaufen, und es floss Blut.
Das Porzellan am Boden, da liegt es gut.
Buh, buh, welch eine Pleite.
Buh, buh, dir läuft’s runter an der Seite.
Es ist vorbei, warum ist nicht wichtig.
Liebe ist flüchtig,
Sie ist auf der Flucht.
67
In einem seltsamen Hochgefühl war Markus am Abgrund entlanggewandelt. Als er an jenem Abend nach Hause gekommen war, hatten ihn weitere qualvolle Bilder heimgesucht. Hing das vielleicht alles mit Strindberg zusammen? Sich den Ängsten seiner Landsleute auszusetzen, war sicherlich etwas, das es zu vermeiden galt. Die Schönheit des Augenblicks, Nathalies Schönheit, all das war ihm als erreichbares Ufer
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