Nathanael
Tempo die Schranke zur Ausfahrt. Alles wirkte ganz normal. Nur die Beulen und die zersplitterte Frontscheibe erzählten eine andere Geschichte.
«Ich habe mich also nicht getäuscht. Dieser Dämon wollte mich umbringen. Wir können von Glück sagen, dass dieser Blutengel rechtzeitig da gewesen ist», sagte Tessa leise und knetete ihre Finger.
«Uns», verbesserte Ernest. «Er wollte uns umbringen. Wenn der Blutengel nicht gekommen wäre, wär’s mit uns vorbei gewesen.»
Ernest schüttelte den Kopf, dabei rieselten die Glassplitter herab. Als er sie von seinen Händen pulte, blieben kleine blutige Kratzer auf der Haut zurück.
Auch Tessa schüttelte ihr langes Haar aus. Die Glassplitter fielen auf ihren Schoß. Mit der Hand fegte sie sie hinunter.
Die Worte ihres Stiefbruders drangen nur noch wie durch Watte zu ihr. Ihr Kopf fühlte sich hohl und taub an. Wie konnte der Blutengel davon wissen, dass sie von einem Dämon verfolgt wurden? Konnte er den etwa wittern? Das hörte sich alles zu fantastisch an.
Wenn ihr jemand vor Tagen etwas von Dämonen und Engeln erzählt hätte, wäre sie in Gelächter ausgebrochen. Aber jetzt hatte sich ihr eine Welt geöffnet, von der sie wünschte, sie nie kennengelernt zu haben.
Das Blut stockte in ihren Adern.
Tessa bemerkte verwundert, dass Ernest den Wagen zur Brooklyn Bridge lenkte, was völlig entgegengesetzt von ihrem Apartment lag.
«Wo … was hast du vor?»
«Du kannst nicht mehr nach Hause. Er weiß längst, wo du wohnst, da bin ich mir sicher.»
«Glaubst du, ich wäre in Stevens Wohnung auch nicht sicher?»
«Ich weiß es nicht. Aber ich denke, ich bringe dich besser zu Schwester Bertha.»
Tessa kannte die Ordensfrau nur aus Ernests Erzählungen. Er hatte sie als eine sehr resolute, aber auch sehr rührige Person beschrieben.
«Ist sie nicht katholisch?»
«Ja, aber Konfessionen spielen hier keine Rolle. Sie hat eine besondere Beziehung zu Engeln.»
«Ich möchte doch lieber ins Stevens Wohnung», entgegnete sie. In der gewohnten Umgebung würde sie sich sicherer fühlen. Niemand kam unbemerkt an den Männern des Sicherheitsdiensts am Eingang des Hochhauses vorbei.
«Unmöglich. Dort bist du vielleicht auch nicht sicher. Schwester Bertha besitzt genügend Erfahrung im Umgang mit Kreaturen dieser Art. Wenn du an einem Ort sicher bist, dann bei ihr.»
Tessa horchte auf. Doch sie war zu erschöpft, um zu intervenieren. Ihr drängte sich die Frage auf, ob ihr Stiefbruder noch mehr verschwiegen hatte. Woher wusste er von Schwester Berthas Erfahrungen mit Dämonen? Sobald sie sich wieder erholt hatte und klar denken konnte, würde sie ihn danach fragen.
Aber Ernest hatte recht, bestimmt war sie in ihrer desolaten Verfassung in der Obhut der Schwester besser aufgehoben. Sie konnte ja kaum stehen.
Nachdenklich betrachtete sie das Profil ihres Stiefbruders. Die Kiefer fest aufeinandergepresst schien er zu grübeln. Was mochte in ihm vorgehen? Sicherlich plagten ihn Schuldgefühle, weil der Dämon ihn derart manipuliert hatte. Ernest lebte für seinen Glauben. Sicher warf er sich vor, dem Einfluss des Dämons nicht widerstanden und sie beide in Gefahr gebracht zu haben.
Ihr Stiefbruder ging mit anderen Menschen sehr offen um, stand mit Rat zur Seite, aber über seine eigenen Empfindungen sprach er nicht gern. Wenn sie ihn danach fragte, erhielt sie jedes Mal die gleiche Antwort: «Ich nehme mich nicht so wichtig.»
Oft hatte sie in der Vergangenheit die Zweifel in ihm gespürt, die Fragen und den Schmerz in seinen Augen gelesen, wenn er besonders tragischen Schicksalen begegnete. Glaubte er jedes Mal versagt zu haben?
Weshalb mussten manche Menschen mehr Leid ertragen als andere? Welcher Sinn lag im Tod? Gab es ein Leben danach? Nächtelang hatte sie früher mit Ernest über diese Themen diskutiert und den Glauben auf ein Leben nach dem Tod weit von sich gewiesen. Doch nun war alles, woran sie bislang geglaubt hatte, infrage gestellt worden.
Sie lehnte ihren Kopf gegen die kühle Fensterscheibe und blickte hinaus in die Nacht.
13.
Auf der Brooklyn Bridge herrschte selbst zu dieser späten Stunde noch reger Verkehr. Tessa bemerkte die erstaunten Blicke der Autofahrer, die Ernests demoliertem Wagen galten.
Der eisige Fahrtwind ließ sie frösteln. Immer wieder suchte ihr Blick nach einem Streifenwagen, der sie wegen des ramponierten Wagens stoppen könnte, um ihnen Fragen zu stellen. Alles wirkte so irreal, und sie kam sich vor wie eine Flüchtende in
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