Nathanael
einfach die Vorstellung. Wo traf man sie? Rief man sie per Gebet? Sah ein Engel wie ein Mensch aus? Welchen Unterschied gab es zwischen beiden? Bertha lachte und schüttelte den Kopf, während sie ihr das Glas abnahm.
«Nein. Wenn das so einfach wäre. Nicht alle von uns können Engel sehen oder gar mit ihnen reden. Nur durch eine besondere Schicksalsfügung ist es erlaubt. Mir war es vergönnt …» Schwester Bertha seufzte und lächelte.
«Ich habe zwar von Engelserscheinungen gehört, aber ich bin nicht religiös, wissen Sie …», sagte Tessa.
Um genau zu sein, hielt sie im Gegensatz zu ihrem Stiefbruder nicht viel von der Kirche und dem ganzen Gerede über Gott, Engel oder Teufel. Als Kind war sie früher sonntags zum Gottesdienst gegangen, aber nur ihren Eltern zuliebe. Die Predigten waren ellenlang und sterbenslangweilig gewesen.
Doch sie musste gestehen, dass ihr Weltbild nach den Erlebnissen der letzten Tage einen Riss bekommen hatte.
«Sie müssen nicht religiös sein, um zu verstehen. Es ist nun mal so, wie es ist», erwiderte Schwester Bertha milde.
«Haben Sie denn schon oft Engel gesehen?»
«Ja, mehrere Male. Schon als Kind bin ich einem begegnet, kurz bevor meine Großmutter gestorben ist. Er nahm mich bei der Hand und sagte, ich solle nicht traurig sein. Es war Michael, aber das habe ich erst später erfahren. Und Sie? Sind Sie auch schon einem Engel begegnet?» Tessa gewann den Eindruck, dass Schwester Bertha bei diesem Thema regelrecht auflebte.
«Wenn Blutengel auch dazuzählen, ja.»
«Ich denke schon. Ihre Körper besitzen die Fähigkeiten eines Engels, ihre Seelen sind menschlich.»
Tessa rutschte unruhig auf dem Sessel hin und her. «Das alles hört sich so fremd an. Erzengel, Blutengel … Ich bin ganz verwirrt. Wahrscheinlich muss ich mich nur daran gewöhnen. Woran erkennt man einen richtigen Engel? An den Flügeln?»
Schwester Bertha lächelte nachsichtig. «Den meisten fällt es schwer, die Existenz himmlischer Wesen zu akzeptieren. Engel zeigen ihre Flügel selten. Sie sehen meist aus wie ganz normale Menschen. Aber wenn Sie irgendwann eine kiellose Feder finden, wissen Sie, dass ein Engel in Ihrer Nähe gewesen ist.»
«Ich dachte immer, Engel hätten weiße Flügel», sagte Tessa mehr zu sich selbst, der die Feder in ihrer Handtasche wieder einfiel.
«Gefallene haben schwarze.»
Bildete Tessa sich das ein oder schwang Ehrfurcht in Berthas Tonfall mit? Sie fühlte sich zu müde, um weiter darüber nachzudenken.
«Ernest meinte, dass ich hier bei Ihnen sicher wäre.» Tessa glaubte nach den vorangegangenen Geschehnissen, nirgendwo mehr sicher zu sein, und zweifelte zum ersten Mal an Ernests Worten.
«Hundertprozentige Sicherheit gibt es nicht. Aber hier sind Sie sicherer als zu Hause. Kein Dämon wird es wagen, hier einzudringen. Wir kennen genügend Bannsprüche.»
«Was wollen die Dämonen?»
«Sie bescheren uns Alpträume, lehren uns das Fürchten und führen uns in Versuchung.»
«Würden sie auch töten?» Gespannt wartete Tessa auf die Antwort Berthas.
In den schwarzen Augen der Schwester lag Wachsamkeit. «Davon habe ich nie gehört.»
Tessa konnte sich des Gefühls nicht erwehren, dass Schwester Bertha log. Oder wusste sie es nur nicht besser, wie Ernest?
«Und Gefallene?», hakte Tessa nach und blickte die Ordensfrau forschend an.
«Sie wandeln nicht auf der Erde. Und wenn, dürfen sie uns in einem geweihten Haus nichts antun. Unten im Erdgeschoss befindet sich eine kleine Kapelle, in die wir uns zur Not flüchten können.»
«Sehr beruhigend», murmelte Tessa. Schwester Bertha schien sich hier in absoluter Sicherheit zu wähnen. Waren sie das wirklich? Ließen sich Dämonen tatsächlich von einem Gotteshaus mit ein paar Kreuzen und Gebeten abschrecken? Tessa hegte Zweifel. Vielleicht lag ihre Skepsis auch im Alptraum von vorhin begründet.
Woher wusste Bertha so viel über Engel? Doch nicht von dieser einzigen Begegnung, die sie erwähnt hatte. Manchmal glaubte Tessa einen wachsamen Ausdruck im Blick der Schwester zu erkennen, was ihr Misstrauen weckte. Vielleicht sollte sie doch lieber aus Sacred Hearts verschwinden.
Doch wo konnte sie hin? Noch dazu in ihrem geschwächten Zustand? Ihre Lider wurden immer schwerer.
Bertha beugte sich zu ihr herab. «Sie sehen blass aus und sollten sich besser hinlegen. Ich lasse Sie jetzt allein. Wenn Sie was brauchen, dann wählen Sie auf dem Telefon die 1.» Sie deutete mit dem Finger auf das tragbare Telefon, das
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