Nathaniels Seele
ihren Arm legte.
„War das gerade die Schlangenfrequenz?“ Josephine beobachtete, wie sich das Tier zutraulich um ihre Hand wickelte. „Könntest du sie mir beibringen?“
„Das ist nicht so einfach.“ Nathaniel strich mit dem Zeigefinger über den Kopf des Reptils. „Das heißt, es ist nichts, was man jemandem einfach so beibringen könnte.“
Josephine setzte das Tier auf dem Boden ab. „Ich wollte schon immer mal ein Reh von Nahem sehen. Ich meine ein Lebendiges. Hast du auch die Rehfrequenz drauf? Könntest du eins anlocken?“
„Ja und nein. Ich könnte es, aber ich werde den Teufel tun, eines dieser armen Dinger zu verwirren. Nehmen wir mal an, ich tue dir den Gefallen. Infolgedessen denkt sich das Tier: Oha, so übel sind die hässlichen, zweibeinigen Dinger gar nicht. Also verliert es seine berechtigte Scheu und gleichzeitig bei der nächsten Gelegenheit sein Leben.“
Josephine nickte. „Aber letztens hast du eines getötet.“
„Das ist kein Widerspruch.“ Nathaniel grub eine Wurzel aus und ließ sie Josephine kosten. Sie schmeckte angenehm nussig, besaß aber einen seltsamen Nachgeschmack. „Ich will mein Essen vorher sehen. Ich will es mit meiner eigenen Hand töten und mich bei ihm entschuldigen. Das ist in meinen Augen ehrlich. Ich habe gesehen, wie ihr euer Fleisch macht. Neunzehnhundertdrei in Chicago.“
„Seitdem hat sich einiges geändert. Und als du es gesehen hattest? Warst du dann eine Weile Vegetarier?“
„Nein. Ich bin nach Hause zurückgekehrt und machte Absá klar, dass ich genug gesehen hatte.“
Josephine legte fragend den Kopf schief.
„Sie wollte damals, dass ich ein paar Monate durch das Land ziehe, um die Welt der Weißen kennenzulernen“, beantwortete Nathaniel ihre unausgesprochene Frage. „Ihr Handeln und Tun, ihre Denkweise, ihre Angewohnheiten. Ich vagabundierte ein paar Jahre durch die Gegend und nahm jeden Job an, den ich bekommen konnte, was sich dank meiner Herkunft fast ausschließlich auf Drecksarbeit beschränkte. Es war eine interessante Zeit. Ich schlief sowohl in seidenen Betten als auch unter Brücken. Mein letzter Job hätte darin bestanden, Schweine auszuweiden. Aber als ich sah, dass viele Tiere zu diesem Zeitpunkt noch lebten, beschloss ich, genug von der Welt der Weißen gesehen zu haben. Absá war glücklicherweise derselben Meinung.“
„Nicht hier und nicht heute“ knurrte Josephine.
„Was?“
„Keine schlechten Gedanken. Keine üblen Geschichten. Nichts, was auch nur annähernd negativ ist.“
Nathaniel lächelte. „Nichts lieber als das.“
Sie liefen weiter, diesmal schweigend. Er gab ihr die zarten, eingerollten Spitzen eines Farns zum Kosten, pflückte Beeren und fütterte sie, bis seine Finger und ihre Lippen rot glänzten und sie sich gegenseitig mit der Zunge säuberten. Er brachte ihr bei, wie man mithilfe eines Grashalmes pfiff, um Hirsche herbeizulocken, und versuchte vergeblich, sie den Gesang eines Finken nachahmen zu lassen.
Lieber saß sie neben ihm und lauschte seiner Kunst, denn er vermochte es mit der Perfektion eines Jägers vom alten Schlag, die Stimmen wilder Tiere nachzuahmen. Josephine versank im Glanz seiner Augen und seines Lächelns, genoss seine warmen Hände auf ihrem Körper und das Gefühl, als sei die ferne Vergangenheit ebenso nah wie die Gegenwart.
Als der Abend dämmerte, saßen sie am Ufer des Sees und beobachteten das Einbrechen der Nacht. Josephine wusste, dass er jederzeit damit beginnen würde, ihren Körper zu liebkosen. Die Ungeduld machte sie schier verrückt, und doch besaß es einen tief gehenden Zauber, einfach still nebeneinanderzusitzen, dem Wald zu lauschen und die Zeit an sich vorbeifließen zu lassen.
Irgendwann wandte sich Nathaniel zu ihr um, setzte sich vor sie und begann, ihr Gesicht zu streicheln. Langsam fuhr er die Linie ihres Kiefers nach, berührte ihre Wimpern, strich über ihre Lippen. Bewunderung lag in seinen Augen. Nein, Hingabe. Und ein Ausmaß an geduldiger Zärtlichkeit, das sie nie zuvor im Blick eines Mannes gesehen hatte.
Josephine ließ sich in diese entrückten Momente fallen. Sie schloss die Augen, spürte, wie sein Zeigefinger über ihre Schläfe glitt, dann hinunter zum Wangenknochen – als plötzlich ein Geräusch erklang.
Es ähnelte einem Sirren, gefolgt von etwas, das sie nicht einordnen konnte. Der Finger verschwand von ihrer Haut. Blinzelnd öffnete sie die Augen. Das Erste, was sie sah, war Nathaniels starres, verwirrtes Gesicht. Dann
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