Nathaniels Seele
dass er in Apathie versank. Damit war auch Josephine nutzlos. Ihre gelungene Flucht war und blieb seine einzige Hoffnung. Denn Absá würde nicht eingreifen. Das spürte er mit aller Deutlichkeit, auch wenn er sich nicht erklären konnte, warum es so war.
„Josephine ist mir wichtiger als das Grab“, vermittelte er ihr im Geiste. „Lieber lasse ich sie die Knochen der Erde entreißen und hierherbringen, als mitzuerleben, wie sie getötet wird.“
Möglicherweise interessierte sich sein Entführer gar nicht für das, was er tun konnte, sondern trachtete danach, seinem Körper das Geheimnis seiner Andersartigkeit zu entreißen. In diesem Fall würde man schnell erkennen, dass ein Druckmittel überflüssig war, denn er konnte ihnen schon jetzt geben, was sie wollten – einen willenlosen Zombie ohne jede Möglichkeit zur Flucht. Würden sie Josephine, falls sie es geschafft hatte, also in Ruhe lassen? Oder wusste sie zu viel?
Wieder wurde die Tür aufgestoßen. Diesmal waren es vier Männer. Einer löste seine Fußfesseln, drei packten ihn und zerrten ihn hinaus in eine laue, von künstlichem Licht geflutete Sommernacht. Alles in ihm schrie danach, die Männer zu töten, sie in Stücke zu reißen und ihr Blut zu vergießen, wie er das Blut Hunderter Feinde vergossen hatte. Doch er wusste, dass es sinnlos war. Er besaß nicht einmal annähernd die nötige Kraft.
Vor ihm lag ein gewaltiges, mit schwarzem Glas verkleidetes Gebäude, dessen kegelförmige Spitze in den Himmel zu reichen schien.
„Wir machen dich jetzt los“, sagte einer der Männer, in dessen blutverschmiertem Gesicht vier halbmondförmige, tiefe Wunden klafften. Stammten sie von Josephines Fingernägeln? „Falls du diesen Umstand zur Flucht nutzen willst, sollte ich dir vorher etwas erklären. Deine Freundin hat es nicht geschafft. Sie hat sich gewehrt wie eine Wildkatze, aber wir haben sie erwischt. Jeder deiner Schritte und jede Bewegung wird von Kameras überwacht und verfolgt. Jedes Wort, das wir wechseln, wird mitgehört. Sollte irgendetwas nicht so laufen wie geplant, verliert deine Freundin ein paar Finger. In einem leichten Fall deiner Weigerung, uns zur Verfügung zu stehen, wohlgemerkt. Im schwereren Fall verliert sie ihr Leben. Und zwar langsam und schmerzhaft. Hast du das verstanden?“
Nathaniels Blut kochte vor Wut. Seine einzige Befriedigung lag darin, dass Josephine es geschafft hatte, zwei der Männer mit Kratzern und Bissen übel zuzurichten. Hätte sie nur ein Messer dabei gehabt. Irgendetwas, mit dem sie hätte töten können. Nathaniel warf einen Blick auf den glasfunkelnden Eingang des Gebäudes. Eine Kamera schwenkte leise schnurrend zu ihnen herüber. Kaum hatte er genickt, löste sich der Griff um seine Arme und er sank in die Knie.
„Was ist los?“ fauchte der Mann rechts von ihm. „Noch so zugedröhnt? Das sah mir vorhin aber nicht danach aus.“
Er antwortete nicht. Starrte nur auf den grau gepflasterten Boden. Man nahm ihm die Handschellen ab, doch das trügerische Gefühl von Freiheit war niederschmetternder als der vorherige Zustand. Sie durchquerten eine Eingangshalle, in deren poliertem Marmorfußboden Lichter ihren Widerschein fanden. Hinter einem riesigen Mahagonitresen saß eine junge Frau mit aufgesteckten roten Haaren und blickte ihnen neugierig entgegen. Ihr Lächeln gefror ob des sich ihr bietenden Bildes – ein finster blickender Mann in seltsamer Kluft, hängend in den Armen zweier Anzugträger. Sie keuchte leise, als sie den Tresen passierten, und dieser Laut erinnerte ihn so sehr an Josephine, dass er seine Zähne in die Unterlippe graben musste, um nicht vor Wut zu schreien.
Sie betraten einen Fahrstuhl von der Größe eines Wohnzimmers und glitten lautlos nach oben. Zwanzig Stockwerke über dem Erdboden empfing sie hinter einer Wand aus Glas die nächtliche Pracht der Stadt. Nathaniel wurde zu einer Tür aus poliertem Ebenholz bugsiert, die sich lautlos öffnete. Dahinter lag ein fast leerer Raum von verschwenderischer Größe. Immerhin, erkannteer mit einem Hauch von Erleichterung, warteten kein Labor und keine Traube wissbegieriger Wissenschaftler darauf, ihn wie eine Ratte auseinanderzunehmen.
Ein Bildschirm stand auf einem schwarzen Schreibtisch, gedreht in ihre Richtung. Vor dem Fenster, das eine gesamte Wand einnahm, stand ein runder, ebenfalls schwarzer Tisch, umringt von silbergrauen Stühlen. Nathaniel sah ein chromglänzendes Bücherregal, das bis unter die Decke reichte, die
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