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Nathaniels Seele

Titel: Nathaniels Seele Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Britta Strauß
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den Patienten stand.
    „Sind Sie ein Familienmitglied?“, säuselte sie mitfühlend, während ihr Körper einen Duftcocktail ausstieß, der seine soeben unter Kontrolle gebrachten Gedanken abdriften ließ.
    „Nein“, antwortete Nathaniel. „Oder besser gesagt, ja. Er gehört zu meinem Stamm, insofern sind wir eine Familie.“
    „Verstehe.“ Die Frau strich sich ein paar blonde Strähnen aus dem Gesicht und wiegte nachdenklich den Kopf. „Alles Gute für Sie.“
    Nathaniel beschränkte sich auf ein dürftiges Lächeln, drehte sich um und studierte den Gebäudeplan, der neben dem Tresen stand. Dieses Monster von Klinik war noch riesiger, als es von außen den Anschein erweckt hatte. Mit plötzlicher Inbrunst sehnte er sich nach seiner Heimat. Er dachte an die Stille der Wälder, an Josephines Farm und wohltuende Einsamkeit. Obwohl sein Fernweh mit jedem Jahr stärker wurde, hasste er diese kurzen, erzwungenen Reisen mehr denn je. Sie brachten ihm keine Erleichterung. Er fühlte sich an Orten wie diesen seltsam unwirklich, wie ein Statist in einem Film, der tat, was man von ihm verlangte, und doch nur darauf wartete, dass man ihn in die Realität entließ.
    Mürrisch machte sich auf den Weg durch lange, nach Krankheit, Tod und Desinfektionsmitteln stinkende Flure, durchquerte gläserne Ubergänge und bevölkerte Wartehallen, bis er nach einer gefühlten Ewigkeit vor dem entsprechenden Zimmer stand. Nathaniel zögerte, denn er hörte leise Stimmen. Eine davon gehörte Jeremy. Ob der Junge sich verändert hatte? Und wenn ja, war es eine Veränderung zum Guten oder zum Schlechten? Jedes Mal, wenn er den Jungen betrachtete, dachte er an Cuncana. Er fragte sich, wie er wohl in Jeremys Alter ausgesehen hätte, zu was für einem Mann er herangewachsen wäre und wohin sein Schicksal ihn getragen hätte. Es waren sinnlose Gedanken, das war ihm klar. Aber im Leben gab es viele Dinge, die nichts einbrachten und von denen man doch nicht ablassen konnte. Geliebte Fesseln, wie Nathaniel es gern bezeichnete.
    Nach einem tiefen Atemzug öffnete er die Tür und schlüpfte ins Innere des Raumes. Vier Personen blickten erwartungsvoll auf. Joseph Murdock wiederum lag leichenblass im Bett und erweckte den Eindruck, als hätte er bereits vor Stunden das Zeitliche gesegnet.
    „Großes Mysterium.“ Jeremy stürmte herbei und fiel Nathaniel in die Arme. „Endlich bist du hier. Sie sagen, dass Joseph den Tag nicht überleben wird. Deswegen haben sie sämtliche Schläuche aus ihm rausgezogen. Vorher sah er aus wie eine Tanne.“
    „Wie eine Tanne?“
    „Na ja, alles voller Nadeln.“
    Nathaniel schmunzelte. Aus dem Jungen war längst ein Mann geworden, und doch streichelte er ihm liebevoll über das Haar. Wie damals. „Ich bin selten pünktlich“, sagte er. „Aber trotzdem komme ich rechtzeitig.“
    „Die Indian Time.“ Jeremy nickte gewichtig. „Gut zu umschreiben mit
irgendwann
oder
wird schon irgendwie rechtzeitig sein
.“
    „Bitte“, beschwerte sich Nathaniel. „Nenne mich nicht mehr großes Mysterium.“
    „Damit warst nicht du gemeint. Ich habe ein Stoßgebet zum Großen Geist geschickt.“
    „Soso.“ Nathaniel musterte seinen Ersatzsohn neugierig. Er hatte sich kaum verändert, auch wenn ihn nun die Reife eines Mannes erfüllte. Noch immer liebte er viel zu große Cargohosen, zu enge Shirts und die Farbe Schwarz. Noch immer standen seine fingerlangen Haare wie eine Kratzbürste zu Berge und blitzte der pure Kleinjungenschalk in den schräg stehenden Mandelaugen. Jeremy war durch und durch Absarokee, mehr als manch altes Mitglied ihres Stammes. Die Tatsache, dass er in der Stadt lebte und sich durch die krude Paragrafenwelt der Weißen wühlte, änderte daran nichts. Und das erfüllte Nathaniel mit Stolz.
    „Also dann.“ Jeremy deutete auf den Kranken. „Mach ihn wieder ganz. Übrigens sah er, bevor er umkippte, weiße Büffel über Fisherman’s Wharf galoppieren.“
    „Nicht schlecht.“ Nathaniel nickte Josephs Frau und seinen beiden Zwillingssöhnen zu, die, wenn er sich recht entsann, letzte Woche sechzehn geworden waren. „Damals wäre das eine sehr hoffnungsvolle Vision gewesen.“
    Vorsichtig setzte er sich neben den Kranken auf die Bettkante. Seine feinen Sinne rochen den Tod. Sie witterten das schale Aroma welkenden Fleisches und die Süße einsetzenden Verfalls. Als seine Hände sich um Josephs Kopf schlossen, spürte er kaum mehr Leben in seinem Körper. Doch das hauchfeine Band, das die Hülle mit

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