Nathaniels Seele
ihrem bereits entwichenen Geist noch immer verband, würde genügen.
Aufmerksam lauschte Nathaniel in die vor ihm liegende Sterblichkeit hinein. Seine mentalen Finger ertasteten einen wuchernden Knoten, dessen Gift das Lebenslicht zusehends auslöschte. Er ließ Hitze in seine Hände fließen, die im gleichen Maße tödlich wie heilend sein konnte, sandte sie durch sein Fleisch in das des Kranken und leitete sie hin zu der Wucherung, die die fließenden Kräfte des Körpers unterbrach. Er stellte sich vor, wie die Wärme sie träge ummantelte, wie sie in sie hineinsickerte, sie durchdrang und auflöste. Nach und nach, wie Eis in der Sonne.
Visualisierung ging über in Realität. Nathaniel spürte Energie in Josephs Fleisch zurückkehren. Die fast verloschene Flamme seines Lebens gewann an Kraft, der Geist, der den siechenden Körper bereits vor Stunden verlassen hatte, bettete sich wieder in seine Hülle ein. Vielleicht war es gut, was er getan hatte. Vielleicht auch nicht. Er heilte Joseph, weil sein Leben zu wichtig für den Stamm war, und nicht, weil der Kranke selbst den Wunsch geäußert hatte. Was, wenn die Seele bereits das Licht der anderen Welt gekostet hatte und nun von ihm zurückgerissen worden war? Was, wenn es der Wille des Mannes war, in der anderen Welt zu bleiben? Er wusste, wie es sich anfühlte. Jenes überirdisch herrliche Licht – und das Gefühl, ihm entrissen zu werden.
„In ein paar Stunden wird er aufwachen.“ Nathaniel erhob sich mühsam. Vom vertrauten Schwindel der Erschöpfung übermannt, musste er sich am Bettgitter festhalten. „Besteht darauf, Joseph mit nach Hause ins Dorf zu nehmen. Ich habe ihn nicht vollkommen geheilt, weil das zu viele Fragen und zu viel Aufmerksamkeit nach sich ziehen würde. Aber es dürfte reichen, um ihn einigermaßen geradeaus gehen zu lassen. Den Rest hole ich im Dorf nach.“
„Du bist unglaublich.“ Jeremy fiel ihm erneut in die Arme, gefolgt von Josephs Frau und den beiden Jungen. Nathaniels Schwindel nahm an Intensität zu, als er sich plötzlich von warmen, vor Erleichterung zitternden Körpern umringt sah. Dennoch blieb ein schaler Nachgeschmack zurück. Inbrünstig hoffte er, dass er nichts getan hatte, was Josephs eigenem Willen widersprach.
„Danke, tausend Dank“, sagte die Frau. „Wenn du jemals etwas brauchst, komm zu uns. Es wäre uns eine Ehre, dir irgendwann helfen zu können.“
„Das ist nicht nötig.“ Nathaniel schob seine Verehrer behutsam von sich. „Es ist meine Aufgabe. Aber danke.“
„Du hast nicht nur meinen Mann gerettet, sondern unseren ganzen Stamm. Josephs Stimme ist wichtig für uns, weil er noch weiß, worauf es wirklich ankommt. Nicht viele sind mehr so wie er. Und keiner ist mehr so wie du. Deine Augen haben die Zeiten gesehen, von denen wir nur noch in Geschichten hören. Du hast für uns in den Kriegen gekämpft, von denen alle unsere Kinder lesen und unsere Alten erzählen. Ich weiß, dass unsere freie Seele weiterlebt, solange du weiterlebst.“
Nathaniel fühlte sich beklommen, als er den Schmerz in den Augen der Frau sah. Er war selten um Worte verlegen, doch diesmal musste er kapitulieren.
„Darf ich dich wenigstens zum Essen einladen?“ Jeremy unterbrach die drückende Stimmung, legte den Arm um Nathaniels Schulter und zog ihn in Richtung Tür. „Ich kenne ein wunderbares Café ganz hier in der Nähe. Café du Nord. Sagt dir das was?
„Nein. Aber ich vertraue mich dir gern an.“ Es war sinnlos, sich den Überredungskünsten des Jungen zu entziehen. Abgesehen davon blieben ihm noch über drei Stunden Zeit, bevor er sich zum Flughafen aufmachen musste. Der Besuch eines Cafés war zweifellos verlockender als die Aussicht auf stundenlange Grübeleien, Erinnerungen und Zwiespälte.
„Dann wird es Zeit, dass du es kennenlernst,“ frohlockte Jeremy mit einem entwaffnenden Lächeln. „Komm, ich mach dich mit dem besten Kaffee der ganzen Stadt bekannt. Und wenn ich eins bemerken darf: Scheiße, du siehst gut aus. Wie alt bist du jetzt?“
„Irgendwas über einhundert Jahre.“
„Und nicht eine Falte. Ich könnte dich würgen.“
„Warum?“ Nathaniel schmunzelte. Niemand vermochte es besser als Jeremy, ihm das Gefühl von Jugend und Unbeschwertheitzurückzugeben. Wie gern hätte er mehr Zeit mit ihm verbracht, doch weder würde es der Stamm erlauben noch seine Sehnsucht nach einer Frau, die er kaum kannte.
„Weil ich verdammt noch mal neidisch bin. Vielleicht sollte ich dich in eine
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