"Natürlich kann geschossen werden": Eine kurze Geschichte der Roten Armee Fraktion - Ein SPIEGEL-Buch (German Edition)
praktisch sah es ganz anders aus.« 14 Brigitte Mohnhaupt hatte im Prozess gegen Baader und andere in Stammheim ein ganz anderes Bild der Gruppe gezeichnet. »Wenn einer einen Führungsanspruch gehabt hätte«, sagte sie, »hätte er sich nur lächerlich gemacht.« Und: »Guerilla ist eine Hydra. Das heißt, sie kriegt immer neue Köpfe.«
Im Sommer 1977 hatten die Illegalen keine Zeit, sich lange mit der gescheiterten Entführung Pontos oder ihrer Gruppenstruktur zu beschäftigen. Seit über vier Jahren hatten RAF-Kader versucht, eine schlagkräftige Truppe und die entsprechende Logistik aufzubauen, um die Stammheimer freizupressen. Immer wieder war der Wiederaufbau gescheitert. Jetzt musste es Schlag auf Schlag weitergehen. Vor allem weil Gudrun Ensslin unentwegt Aktionen forderte, planten die Illegalen kurzfristig einen Anschlag.
Drei Wochen nach dem Mord an Jürgen Ponto besuchte ein junges Paar in Karlsruhe einen Künstler und seine Frau, die gegenüber der Bundesanwaltschaft wohnten. Sie wollten ein Bild kaufen, sagten sie, doch dann zogen sie ihre Pistolen und fesselten das Ehepaar. Weitere Mitglieder des Kommandos schleppten Teile einer kleinen Stalinorgel in die Wohnung und montierten die 42 Abschussrohre. Die Höllenmaschine ging nicht los, weil Peter-Jürgen Boock, der Cheftechniker der Gruppe, den Wecker für den Zündmechanismus nicht aufzog. Andernfalls hätte es ein Blutbad unter den Bundesanwälten und Justizangestellten geben können.
Neun Tage später wurde der gescheiterte Anschlag in einer Erklärung zu einer »Warnung« umdefiniert. Aber die Terrorfahnder des BKA rechneten längst damit, dass die RAF erneut zuschlagen würde; nur wann und wo, war ihnen nicht klar. Sie wussten nicht, dass die Illegalen der RAF Ende August 1977 eine vertrauliche Warnung an ihre Unterstützer ausgaben: »Meidet den Großraum Köln.«
Kapitel 6
Aktion »Spindy«
Andreas Geyr saß zwei Tage vor seinem zehnten Geburtstag in seinem Zimmer in der Kölner Vincenz-Statz-Straße 12. In der Hochparterre-Wohnung machte er unter Anleitung seiner Mutter Hausaufgaben. Mathematik. Es war der 5. September 1977 um 17 Uhr 28. Der Junge hörte erst einen Schuss, dann eine Salve von Schüssen. »Da bin ich erst mal rausgerast«, gab er kurz darauf bei der Polizei zu Protokoll, »auf die Straße.«
Ein paar Schritte von der Haustüre entfernt sah er in der Mitte der Fahrbahn »zwei Erwachsene, die eine Person zogen«. Hinter ihnen und vor ihnen liefen jeweils ein weiterer Erwachsener. »Der gezogene Mann versuchte sich zu wehren«, sagte er aus. »Der Mann konnte nicht richtig laufen, er trippelte.« Als seine Mutter ihn eingeholt hatte, rief Andreas Geyr: »Mami, Mami, da wird ein Film gedreht. Da führen die gerade einen ab.«
Nein, die Filme wurden später gedreht. Bei dem trippelnden Mann handelte es sich um Hanns Martin Schleyer, den Präsidenten des Bundesverbandes der Deutschen Industrie und der Bundesvereinigung der Deutschen Arbeitgeberverbände. Die vier Erwachsenen, die ihn abführten, waren das »kommando siegfried hausner« der Roten Armee Fraktion. Auf der Vincenz-Statz-Straße standen zwei von Schüssen zersiebte Limousinen: ein blauer Mercedes 450 SEL und, auf ihn aufgefahren, ein weißer Mercedes 280 E. Der Fahrer in dem blauen Mercedes war über dem Steuer zusammengesunken. Neben dem weißen Wagen lag ein Polizist auf dem Bürgersteig, bei ihm eine Maschinenpistole und eine Pistole. In dem weißen Daimler lagen zwei weitere Polizisten. Sie bewegten sich nicht mehr.
Gerichtsmediziner der Universität Köln stellten später fest: Schleyers Fahrer Heinz Marcisz, 41, hatte fünf Schüsse abbekommen. Polizeimeister Roland Pieler, 20, war von 21 Schüssen getroffen worden, der Polizeimeister Helmut Ulmer, 24, von 26 Schüssen. Der Polizeihauptmeister Brändle, 41, hatte insgesamt sechzig Schussverletzungen erlitten. Ein Blutbad. Der Fahrer und die drei Polizisten des Landeskriminalamtes aus Stuttgart waren innerhalb von Minuten tot. Und Schleyer war Gefangener der RAF.
Hanns Martin Schleyer zählte zu den Personen, die durch die RAF am stärksten gefährdet waren. Schon ein Jahr zuvor, im Sommer 1976, als rund zehn RAF-Kader im Jemen beratschlagten, wie sie die »Big Raushole« organisieren könnten, setzten sie ihn auf die Liste möglicher Entführungsopfer. Mit zynischem, RAF-typischem Humor gaben sie dem fülligen Genussmenschen Schleyer den Decknamen »Spindel«, neudeutsch »Spindy«. Ende Juli 1977
Weitere Kostenlose Bücher