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"Natürlich kann geschossen werden": Eine kurze Geschichte der Roten Armee Fraktion - Ein SPIEGEL-Buch (German Edition)

"Natürlich kann geschossen werden": Eine kurze Geschichte der Roten Armee Fraktion - Ein SPIEGEL-Buch (German Edition)

Titel: "Natürlich kann geschossen werden": Eine kurze Geschichte der Roten Armee Fraktion - Ein SPIEGEL-Buch (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Michael Sontheimer
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rief Bundesinnenminister Werner Maihofer Schleyer im Urlaub an. Für ihn gelte jetzt die höchste Gefahrenstufe I, teilte ihm der FDP-Politiker mit: »Erheblich gefährdet. Mit einem Anschlag ist zu rechnen.« Er möge sich bitte an das Bundeskriminalamt wenden. Kurz vor seiner Entführung waren Schleyer Personenschützer zugeteilt worden. 1

    Zu diesem Zeitpunkt hatten RAF-Kader ihn schon ausgespäht. Ende April 1977 studierte Willy Peter Stoll unter falschem Namen im Hamburger Weltwirtschaftsarchiv Presseausschnitte über Schleyer. Sieben Wochen später kam er zusammen mit einem weiteren RAF-Mann wieder. Die beiden lasen, dass ein »Stern«-Reporter Schleyer »Boss der Bosse« genannt hatte. Mit Zigarre im Mund und den Schmissen seiner Mensur bei einer schlagenden Verbindung im Gesicht wirkte er wie das Klischee eines Kapitalisten. Er hatte Hunderttausende von Arbeitern bei einem Streik aussperren lassen und war ein Gegner der Mitbestimmung. Gewerkschafter von der IG-Metall nannten ihn einen »absoluten Scharfmacher«.

    Von der RAF erschossene Polizisten Reinhold Brändle, Roland Pieler und Helmut Ulmer, um 1976.

    Die RAF-Rechercheure mussten allerdings feststellen, dass bei dem 1915 geborenen Schleyer - wie bei vielen Männern seiner Generation - die offiziellen biografischen Angaben für die Jahre 1933 bis 1945 verdächtig dünn ausfielen. In Tat und Wahrheit war Schleyer im Juli 1931 in die Hitlerjugend eingetreten, 1933 in die SS (Mitgliedsnummer 227014) und 1937 in die NSDAP (Mitgliedsnummer 5 065 527). »Ich bin alter Nationalsozialist und SS-Führer«, hatte er 1942 an den Reichsinnenminister geschrieben, kurz bevor er in Prag zum Leiter des »Präsidialbüros des Zentralverbandes der Industrie für Böhmen und Mähren« ernannt wurde. Dort war der ehrgeizige SS-Offizier vor allem für die Organisation der Rüstungsproduktion zuständig und zog mit seiner Frau Waltrude in eine Villa im Diplomatenviertel. Das Haus hatte dem jüdischen Ehepaar Waigner gehört. Emil Waigner kam im Februar 1942 im KZ Mauthausen um, Marie Waignerová wurde in Auschwitz ermordet. Die Miete ging an einen Fonds, der dem Holocaust-Organisator Adolf Eichmann unterstand. Waltrude Schleyer erinnerte sich 2003 nur noch sehr dunkel an den Einzug ins vormalige »Judenhaus«: »Das wurde uns dann angeboten. Ich weiß auch nicht mehr, wie das richtig vor sich gegangen ist. Wir haben dann plötzlich drinnengewohnt.« 2

    Bei der Entnazifizierung stufte Schleyer sich klammheimlich um drei SS-Dienstränge herab - vom Untersturmfüher zum Oberscharführer - und schaffte es mit dieser und anderen Lügen, als minderbelasteter Mitläufer klassifiziert zu werden. Seine steile Karriere nach dem Krieg begann er als Referent bei der Industrie- und Handelskammer Baden-Baden, bevor er zur Daimler-Benz AG wechselte. In deren Vorstand rückte er 1959 auf. Nachdem er 1973 zum Präsidenten der Bundesvereinigung Deutscher Arbeitgeberverbände (BDA) gewählt worden war, pendelte er mit einem Daimler-Firmenjet zwischen Stuttgart und Köln.

    Da mindestens sieben RAF-Mitglieder Schleyer ausspähten, fanden sie schnell heraus, dass er montags gewöhnlich in seinem BDA-Büro in Köln arbeitete und in seiner dortigen Wohnung übernachtete. Als ihn eine Sekretärin einmal beim Verlassen des Büros fragte, was er denn noch vorhabe, sagte er: »Wo soll ich denn hin? Ich gehe nach Hause und schließe mich dort ein.« 3

    Nachdem die Entscheidung gefallen war, die Entführung in Köln zu versuchen, mieteten vier RAF-Frauen dort vier konspirative Wohnungen an. Sie lagen vorwiegend in anonymen Hochhäusern in der Nähe von Autobahnen und verfügten über Lift sowie Tiefgarage. RAF-Männer stahlen und kauften sechs Autos. Beinahe wäre noch alles aufgeflogen, als Brigitte Mohnhaupt und Adelheid Schulz am 3. September die Fahrstrecke Schleyers abklärten. Ein Anwohner, dem die beiden Frauen verdächtig vorkamen, rief bei der Polizei an. Die zwei Beamten aber, die dem Hinweis nachgehen sollten, ließen sich von den RAF-Frauen erzählen, dass ihr Alfa Romeo defekt sei. Bei der Überprüfung ihrer Ausweise streikte der Computer im Präsidium. Die Polizisten - ganz Kavaliere - eskortierten die Damen in die nächste Werkstatt. 4

    RAF-Hilfskräfte bei der Schleyer-Entführung: Fahndungsfoto von Angelika Speitel, vorne am Steuer, dahinter Beifahrerin Silke Maier-Witt.

    In der Nacht zum 5. September 1977 trafen sich sechs RAF-Kader zur entscheidenden Diskussion. Sie saßen auf

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