"Natürlich kann geschossen werden": Eine kurze Geschichte der Roten Armee Fraktion - Ein SPIEGEL-Buch (German Edition)
was in ihnen vorging, als ihre letzten Hoffnungen auf Befreiung zerstört wurden. Der Gedanke, sich umzubringen, sich auf diese Weise zu befreien, ist ihnen schon lange vertraut. Immer wieder haben sie ihren Genossen draußen damit gedroht. Sicherlich haben sie sich darüber verständigt, unter welchen Umständen sie dieses letzte Stück Freiheit nutzen wollten. Und sie werden besprochen haben, dass sie ihren Suizid so gestalten würden, dass er wie ein Mord aussähe. Die letzte Konsequenz ihres Kampfes ist es, auch den eigenen Tod in seinen Dienst zu stellen.
Hans-Jürgen Bäcker aus der Gründergruppe der RAF sagt, dass ihm Baader schon im Sommer 1970 in dem Palästinenserlager erzählt habe: Bevor er sich im Knast begraben ließe, würde er sich umbringen. Aber er würde es dann so drehen, dass es wie Mord aussähe. Gudrun Ensslin hat in Stammheim ein Exemplar von Bertolt Brechts »Die Maßnahme«. In dem Lehrstück hat sie die Passage unterstrichen: »Furchtbar ist es, zu töten, aber nicht andere nur, auch uns töten wir, wenn es Not tut, da doch nur mit Gewalt diese tötende Welt zu verändern ist, wie jeder Lebende weiß.« 12
Am Dienstag, den 18. Oktober 1977, um 7 Uhr 41 öffnet ein Justizbeamter im siebten Stock in Stuttgart-Stammheim für die Ausgabe des Frühstücks die Zelle von Jan-Carl Raspe. Der Gefangene sitzt mit dem Rücken an die Wand gelehnt auf seinem Bett und blutet aus dem Kopf. Nach seinem Abtransport - er stirbt zwei Stunden später - öffnen die Beamten die Zelle 719. Auf dem Fußboden hingestreckt liegt Andreas Baader, den Kopf in einer großen Blutlache, in der ein Revolver liegt. Baader weist eine Schusswunde im Hinterkopf auf und ist tot. Gegenüber in Zelle 720 hängt Gudrun Ensslin am Fensterkreuz, ein Lautsprecherkabel ihres Plattenspielers um den Hals. Auch sie ist tot. In Zelle 725 liegt Irmgard Möller zusammengekrümmt mit einem blutverschmierten T-Shirt auf ihrer Matratze. Sie lebt, ist durch Stiche mit einem Anstaltsmesser verletzt, aber nicht lebensgefährlich.
Um 8 Uhr 58 verbreitet die Deutsche Presseagentur via Fernschreiber eine Eilmeldung: »die zu lebenslanger freiheitsstrafe verurteilten terroristen andreas baader und gudrun ensslin haben sich am dienstagmorgen in der justizvollzugsanstalt stuttgart-stammheim das leben genommen. dies teilte das baden-württembergische justizministerium mit.«
Nicht viel später hört ein RAF-Mann auf dem Dach des Bagdader Domizils der Gruppe mit einem auf die Deutsche Welle eingestellten Kurzwellenradio die Nachricht. Acht Kader versammeln sich im oberen Geschoss des Hauses. Sie sind schockiert, manche sind sprachlos, andere weinen. Sie haben alles versucht, um die Stammheimer zu retten, denken sie. Und jetzt haben die Schweine sie ermordet, wie sie es immer befürchtet haben. Brigitte Mohnhaupt hält es irgendwann nicht mehr aus: »Könnt ihr sie euch nur als Opfer vorstellen?«, wirft sie in die Runde. »Sie haben ihre Situation bis zum letzten Augenblick selbst bestimmt.«
In Hattersheim bei Frankfurt sind die beiden RAF-Frauen Silke Maier-Witt und Sieglinde Hofmann dabei, eine konspirative Wohnung zu »cleanen«. Während sie alle Türen und Einrichtungsgegenstände sorgfältig abwischen, um die Fingerabdrücke zu beseitigen, hören sie Radio. Die Nachricht vom Tod der Menschen, die sie unbedingt befreien wollten, erschüttert sie. »Kann es sein«, fragt Maier-Witt, »dass die sich selbst umgebracht haben?« Hofmann sagt: »Ja, das kann sein.« Maier-Witt fragt auch, ob Schleyer jetzt getötet würde. »Ich denke schon«, antwortet Hofmann. »Er weiß zu viel über uns.«
Die Eltern von Gudrun Ensslin bei der Beerdigung ihrer Tochter, Baaders und Raspes in Stuttgart, Oktober 1977.
Irmgard Möller erklärt bald darauf einem Staatsanwalt: »Ich habe weder einen Selbstmordversuch begangen, noch intendiert, noch war eine Absprache dagewesen.« Sie sei irgendwann eingeschlafen und mit einem »starken Rauschen im Kopf« wieder zu sich gekommen, erklärt sie später. Baader hatte am 7. Oktober, elf Tage vor seinem Tod in Stammheim, an das Oberlandesgericht Stuttgart geschrieben. »Keiner von uns hat die Absicht, sich umzubringen. Sollten wir hier ›tot aufgefunden werden‹, sind wir in der guten Tradition justizieller und politischer Maßnahmen dieses Verfahrens getötet worden.« 13
Es erscheint schwer vorstellbar, dass Wachbeamte, Polizisten und Politiker von den Waffen im siebten Stock in Stammheim wussten und nichts
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