"Natürlich kann geschossen werden": Eine kurze Geschichte der Roten Armee Fraktion - Ein SPIEGEL-Buch (German Edition)
hinter der Fußleiste seiner Zelle ebenfalls. Dazu kommen noch 655 Gramm Sprengstoff.
Wie konnte dem Techniker, der die elektrischen Geräte der Gefangenen untersucht hatte, die Pistole im Plattenspieler entgangen sein? Wie konnten die Waffen bei den ständigen Durchsuchungen der Zellen unentdeckt bleiben? Hatte die Gefängnisleitung von der Bewaffnung und den Plänen der RAF-Häftlinge wirklich nicht das Geringste mitbekommen?
Totenmasken von Andreas Baader, Gudrun Ensslin und Jan-Carl Raspe.
Dies zu glauben, fällt vor allem schwer, weil die RAF-Gefangenen in Stammheim abgehört wurden. Der Lauschangriff wurde schon während des Prozesses bekannt, aber erst vor ein paar Jahren hat die Landesregierung Baden-Württembergs die meisten der als geheim eingestuften Dokumente über die Abhöraktion freigegeben. Demnach bauten schon Anfang März 1975 drei Techniker des Verfassungsschutzes Mikrofone in zwei Besucherzellen ein. Zwei Monate später wurden drei weitere Zellen verwanzt. In der Nacht zum 1. Juni 1975 bauten vier mit gefälschten Polizeiausweisen ausgestattete Techniker des Bundesnachrichendienstes Mikrofone in zwei weiteren Zellen ein. Auf den Lauschangriff gedrängt hatte unter anderen Kurt Rebmann, damals Ministerialdirektor im baden-württem-bergischen Justizministerium, später Nachfolger Siegfried Bubacks als Generalbundesanwalt. Ingesamt bauten die Techniker in sieben Stammheimer Zellen Abhöranlagen ein. Ein Lageplan deutet darauf hin, dass im siebten Stock auch die Zellen 718 und 719 verwanzt waren. Während der Schleyer-Entführung saß in der 718 bis zum 4. Oktober 1977 Raspe, in der benachbarten 719 von diesem Tage bis zu seinem Tod Andreas Baader.
Abgehört - so die offizielle Version - wurden RAF-Gefangene nur in Besucherzellen und nur fünfmal für begrenzte Zeit, zum Beispiel nach dem Anschlag auf die westdeutsche Botschaft in Stockholm und nach der Verhaftung des Spitzenkaders Siegfried Haag - aber ausgerechnet nicht während der Entführung Schleyers und der »Landshut«? Das ist schwer zu glauben.
Zumal die Gründer der RAF immer unverhohlener mit Suizid drohen, falls sie nicht freigelassen würden. Am Vormittag des 17. Oktober 1977 bekommt Andreas Baader im siebten Stock in Stammheim Besuch aus Bonn. Ministerial-dirigent Hans Joachim Hegelau vom Kanzleramt kommt zusammen mit Alfred Klaus, dem »Familienbullen« des BKA. »Eigentlich ist es zu spät für dieses Gespräch«, sagt Baader. »Hätte man uns früher freigelassen, hätten wir die jetzige brutale Entwicklung verhindern können. Die RAF jedenfalls hat diese Form des Terrorismus, den Kampf gegen Zivilisten, bis jetzt immer abgelehnt.« Baader erklärt noch: »Freigelassene Gefangene sind für die Regierung das kleinere Übel als tote.« 11
Es ist 2 Uhr 05 in Mogadischu und 0 Uhr 05 in Deutschland, als die Stewardess Hannelore Piegler in der »Landshut« ein ihr bekanntes Knacken hört. Jemand öffnet von außen das Notfenster hinter ihr. Durch den entstandenen Spalt tastet sich eine Hand - mit einer Pistole. »Verdammt, dass ist unser Ende«, denkt die Stewardess. Trupps von jeweils fünf Grenzschützern dringen durch die vier Türen und zwei Notfenster in die Maschine ein. »Runter auf den Boden!«, schreien sie den Passagieren zu und eröffnen das Feuer auf die Entführer. Sie treffen Mahmud als Ersten tödlich, dann Nabil Harb, den zweiten Mann. Nadia Shehadah Duaibes, die zierliche Frau, erschießen GSG-9-Männer in einer Toilette durch die geschlossene Türe. Souhaila Sayeh überlebt schwer verletzt.
Nach sieben Minuten ist die Operation »Feuerzauber« erfolgreich abgeschlossen. Staatsminister Wischnewski ruft Kanzler Schmidt in Bonn an. »Das Flugzeug ist geknackt«, sagt er, aber die Telefonverbindung ist so schlecht, dass der Kanzler nichts versteht. Wischnewski versucht es noch einmal: »Die Arbeit ist erledigt. Drei toteTerroristen. Ein GSG-9-Mann verwundet. Sonst keine weiteren Erkenntnisse.« Helmut Schmidt schießen die Tränen in die Augen.
Um 0 Uhr 38 meldet der Deutschlandfunk: »Die von Terroristen in einer Lufthansa-Boeing entführten 86 Geiseln sind alle glücklich befreit worden. Dies bestätigt ein Sprecher des Bundesinnenministeriums soeben in Bonn.« Es ist unklar, wie die RAF-Gefangenen in Stammheim vom Scheitern ihrer Genossen in Mogadischu erfahren. Wahrscheinlich hört Jan-Carl Raspe die Nachricht in seinem Radio und gibt sie mittels der Kommunikationsanlage weiter. Es läßt sich nur ahnen,
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