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Natürliche Selektion (German Edition)

Natürliche Selektion (German Edition)

Titel: Natürliche Selektion (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: H. J. Anderegg
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Nur ein Zettel lag unter der Zimmertür. Wie üblich brauchte ihre Tochter nicht viele Wörter, um ihren Ärger unmissverständlich auszudrücken: »Meine Nummer, falls du sie vergessen hast ...« Darunter stand ihre Handynummer. Der strenge Geruch nach Meeresfrüchten und Diesel wollte auch nach langem Duschen mit parfümierter Seife nicht weichen. Sie war zu müde, um zu begreifen, dass der Gestank nicht durch ihre Nase kam, sondern aus der Erinnerung an den unfreiwilligen Fischzug. Schlapp fiel sie aufs Bett und schlief ein, ohne daran zu denken, Audrey anzurufen oder auch nur ihr Telefon einzuschalten.
    Lautes Klopfen weckte sie. »Maman – bist du da? Mach bitte auf! «, rief Audrey, und wieder polterte sie an die Tür.
    Leo schreckte hoch. »Ja, ich komme«, rief sie verschlafen. Sie schaute auf die Uhr und war plötzlich hellwach. Halb sechs. »Mist«, zischte sie, als sie die Tür öffnete.
    »Allerdings«, gab Audrey böse zurück. »Wie siehst du denn aus? Wo hast du die ganze Zeit gesteckt?«
    Verblüfft stellte sie fest, dass sie nackt an der Tür stand. »Ich war auf Toms Boot«, murmelte sie und ging zum Kleiderschrank. Sie warf ihre ›Abenteuerkleidung‹, Jeans, T-Shirt, Wildlederjacke, aufs Bett und kleidete sich hastig an. »Tut mir leid, ich muss sofort wieder weg. Um sechs will er mir vom Colonel erzählen.«
    »Ach, will er. Und dazu hatte er keine Gelegenheit auf eurer Kreuzfahrt?«
    »Es ist kompliziert, ich erzähl’s dir später. Ich muss ihn nochmals treffen.« Sie stand schon in der Tür, als sie sich an Toms Hose und Hemd erinnerte, die immer noch zerknüllt im Badezimmer lagen. Sie raffte die Sachen zusammen und eilte aus dem Zimmer, verfolgt von Audreys verständnislosen Blicken.
    Er saß mit einer Gruppe seiner Fischerkollegen beim Pastis, als sie fünf Minuten zu spät die Bar betrat. Obwohl er ihr den Rücken zukehrte, sprang er sofort auf und eilte ihr entgegen. »Sie sind spät, wir müssen uns beeilen«, sagte er, gab ihr die Hand und zog sie aus der Kneipe.
    »Was – ich dachte ...«
    »Kommen Sie, ich möchte Ihnen meine Kinder vorstellen.«
    Sie trottete verwirrt ein paar Schritte hinter ihm her, dann blieb sie plötzlich stehen. »Nochmals auf dieses Schiff?«, rief sie erschrocken. »Vergessen Sie’s. Ich habe genug von Ihrem Kahn.«
    Er drehte sich um, seine Hände fassten an ihre Schulter, hielten sie fest wie eine Zange. Mit eindringlicher, fast flehender Stimme sagte er: »Ich werde Ihnen alles über den Colonel sagen, was ich weiß, aber wir müssen nochmals kurz auf See. Es ist sehr wichtig für mich – bitte vertrauen Sie mir.«
    »Vertrauen. Weshalb soll ich Ihnen vertrauen? Was ist denn so wichtig?«
    Er ließ sie los, lächelte geheimnisvoll. »Heute Abend ist es soweit, ich spür’s im Urin. Es dauert nicht mehr lange, dann sehen Sie’s. Sie werden es nicht bereuen, versprochen.«
    »Was Sie alles versprechen«, brummte sie missmutig, doch sie gab ihren Widerstand auf und folgte ihm aufs Boot.
    Der Wellengang hatte sich beruhigt. Die See schlief schon. Die letzten Sonnenstrahlen tanzten wie Myriaden winziger Sterne auf dem Wasser, als Tom den Kutter aus dem Hafenbecken in den Atlantik steuerte. Diesmal fuhr er mit gedrosseltem Motor. Angenehm leise und ruhig glitten sie der Küste entlang der untergehenden Sonne entgegen. Mit einer Hand am Steuer wandte er sich ihr zu und begann endlich zu berichten:
    »Fünfzehn Jahre sind es jetzt her, dass ich dem Colonel zum ersten Mal begegnet bin. Sein richtiger Name ist Theo Garnier, aber das wissen Sie ja schon. Er ist französisch-amerikanischer Doppelbürger, und damals diente er als Oberst in der Navy. Daher sein Übername. Auch ich hatte meinen Dienst als Psychiater und junger Leutnant im medizinischen Dienst begonnen. Ein sehr ehrgeiziger Leutnant und voller Hoffnung, die Kriegstraumata der armen Schweine von der Front mit meiner Wissenschaft wirklich lindern oder heilen zu können.« Er schaute weg. Sein Blick haftete eine Weile auf der glitzernden Wasserstrasse vor dem Boot, bevor er weitersprach: »Der Colonel machte uns Medizinern mächtigen Eindruck. Er war eine Kapazität in der Behandlung dieser Patienten. Als er mir den Job auf Puerto Rico und gleichzeitig die Beförderung anbot, gab es darum für mich nur eine Antwort. Jahrelang ging alles gut. Ich war richtig glücklich als Leiter dieser Klinik, fast so glücklich wie hier als Shrimper.« Wieder legte er eine Pause ein.
    »Was ist dann geschehen?«,

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