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Natürliche Selektion (German Edition)

Natürliche Selektion (German Edition)

Titel: Natürliche Selektion (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: H. J. Anderegg
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beschloss offenbar, dass sie noch nicht so weit war. »Sie sehen immer noch sehr blass aus. Dagegen kenne ich zwei gute Hausmittel. Sie können wählen: Cayenne Water oder Äthanol.«
    »Was zum Teufel ist Cayenne Water?«
    »Ein Teelöffel Cayenne Pfeffer in einem Glas warmem Wasser. Stoppt sogar Herzattacken.«
    »Wollen Sie mich umbringen?«
    »Scharfe Sachen sind wohl nicht Ihr Ding«, grinste er und ging in die Kajüte.
    Dieser gute Tom reizte sie bis zur Weißglut, aber sie war hier die Gefangene. Gefangen auf diesem Kahn und gefangen von ihrer bedingungslosen Suche nach der Wahrheit. Er kam zurück und hielt ihr ein Glas hin mit einer farblosen Flüssigkeit, die schon von weitem nach Schnaps roch.
    »Diese Form von Äthanol hilft auch«, meinte er.
    Sie hielt vorsichtig die Nase übers Glas. »Rum«, stellte sie fest und führte das Glas an die Lippen.
    »Vorsicht, nichts überstürzen. Das ist kostbarer Rhum blanc, in einem einzigen Gang aus reinem, vergorenem Zuckerrohrsaft destilliert. Siebzig Prozent Alkohol.«
    Sie kippte den Drink in einem Schluck hinunter. Von wegen kostbar. Im nächsten Augenblick brannte das Feuer in ihrer Kehle lichterloh. Sie schnappte nach Luft, hustete ein paar Mal kräftig, dann gab sie ihm das leere Glas wortlos zurück. Das Zeug betäubte endlich ihren rebellierenden Magen und sandte eine Hitzewelle in ihren Kopf, die mit Sicherheit die Farbe ins Gesicht zurückzauberte. Zu seinem Glück enthielt sich Tom einer anerkennenden Bemerkung. Er begnügte sich, zufrieden zu schmunzeln.
    Nach einer kurzen Kontrolle seiner Netze fragte er unvermittelt: »Wie ist Ihr Verlobter gestorben?«
    Beide Wörter versetzten ihr einen Stich ins Herz. Michel und sie hatten keine Ringe getauscht, und doch ging ihre Beziehung unendlich viel tiefer als eine romantische Verlobung. »Gestorben«, wiederholte sie betrübt. »Michel ist erschossen worden, aber das ist eine lange Geschichte.«
    »Erzählen Sie, wir haben Zeit.«
    Sie war nicht hier, um ihre traurige Geschichte aufzuwärmen. Sie wollte seine und die des Colonel hören. Trotzdem entschied sie, ihn so kurz wie möglich über die Umstände von Michels Tod ins Bild zu setzen. Er sollte die Gründe für ihren Verdacht gegen den Colonel verstehen. Tom war ein aufmerksamer Zuhörer, und das Reden tat ihr gut. Die Übelkeit kehrte auch nicht zurück, nachdem sie geendet hatte. Sie saßen eine Weile stumm nebeneinander auf einer Kiste, bis sie das Schweigen unterbrach: »Halten Sie mich für verrückt?«
    Langsam schüttelte er den Kopf und sagte wie zu sich selbst: »Der Colonel ist skrupelloser als ich dachte.«
    Sie nahm an, dass nun die Zeit für seine ausführliche Antwort gekommen wäre, aber sie hatte sich geirrt. Er stand plötzlich auf und schaltete die Zugwinde ein, um das eine der beiden Netze aus dem Wasser zu heben.
    »Treten Sie zur Seite, ich muss die Netze leeren. Wenn Sie wollen, können Sie mir nachher beim Sortieren helfen.« Der Kran hievte das zugezogene Netz auf das Deck über einen Bottich. Tom löste den Verschluss, und der Inhalt ergoss sich in den Behälter. »Vielleicht schauen Sie lieber weg – mit Ihrem empfindlichen Magen.«
    Die Aufforderung hätte er sich sparen können. In dem Moment, als sie den dicken Brei aus Schlick, roten Garnelen, kleinen Fischen, Muscheln und Krebsen aus dem Netz quellen sah, wandte sie sich angewidert ab und versteckte sich entsetzt in der Kabine. Sie verharrte dort, bis er beide Netze geleert, die Krabben aussortiert und in den eisgekühlten Kisten verstaut hatte. Der Hafen war schon in Sichtweite, als sie sich wieder aus dem Versteck traute. Er empfing sie mit einem Blick, den sie nur als schuldbewusst deuten konnte, und sagte: »Tut mir leid, dass wir unser Gespräch nicht fortsetzen können. Ich muss die Ladung löschen und auf den Markt. Aber abends habe ich Zeit für Sie, versprochen. Um sechs in der Bar, O. K.?«
    Sie schluckte ihren Ärger kommentarlos hinunter. Gleichzeitig fühlte sie sich unendlich erleichtert, dieses schwankende, stinkende Gefährt endlich verlassen zu können, wieder festen Boden unter den Füssen zu spüren. In Toms Hosen, aus denen die Beine wie Holzstecken hervorschauten, seinem Hemd, das ihr am Leib flatterte wie einer Vogelscheuche, schlüpfte sie eilig ins nächste Taxi. Nur keine weitere Blöße geben vor den zahlreichen Gaffern am Kai. Sie hoffte, Audrey nicht zu begegnen, bis sie geduscht war und wieder anständige Kleider trug, und sie hatte Glück.

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