Natürliche Selektion (German Edition)
Frau, von der er bisher nur die Stimme kannte, war über ein Mikroskop gebeugt und sah ganz und gar nicht so aus, wie er sich vorgestellt hatte. Sie musste mindestens einen Kopf größer sein als er. Verwirrt blieb er stehen. »Treten Sie näher, junger Mann, ich beiße nicht«, spottete sie, ohne aufzublicken. Dann schaltete sie das Licht des Mikroskops aus, erhob sich und gab ihm die Hand. »Sie müssen Dr. Simon sein. Tut mir leid, was mit Ihrem Freund passiert ist.« Ohne eine Antwort abzuwarten, ging sie zur Tür. »Kommen Sie, überzeugen Sie sich selbst.«
Michel folgte ihr in die Leichenhalle. Der penetrante Geruch nach süßlichem Desinfektionsmittel und Formalin schlug ihm entgegen. Ein ekelerregendes Gemisch, an das er sich nicht gewöhnen konnte und auf das er gerne verzichtet hätte. Aber nach dem letzten Telefongespräch mit der Pathologin wollte er sich die Sache mit eigenen Augen ansehen. Sie öffnete das Kühlfach mit Lorenzos sterblichen Überresten, zog jedoch die Bahre nur soweit heraus, dass sie eine bedeckte Nierenschale herausnehmen konnte. Sie stellte die Schale auf einen nahen Untersuchungstisch und schloss das Kühlfach wieder. »Lorenzos Hippocampus«, bemerkte er verwundert, als sie den Deckel abnahm.
»Sehr richtig erkannt«, lobte die Pathologin spöttisch. »Ich habe es erst übersehen, aber dann fiel mir die Veränderung auf.« Sie drehte die Schale mit dem Hirnlappen ein wenig und zeigte auf die Michel zugewandte Grenzschicht. »Sehen Sie hier das Subiculum, den Übergang zum Neocortex?«
Er schaute genauer hin und erkannte, was sie meinte. »Eine Verhärtung, sieht aus wie eine Kruste.« Er erinnerte sich nicht, je von einem solchen Befund gehört oder gelesen zu haben. »Das – ist erstaunlich«, murmelte er verwirrt.
»Dachte ich auch. Ich habe eine Probe davon untersucht, und da ging das Staunen erst richtig los, das können Sie mir glauben.« Gespannt beobachtete er, wie sie Skalpell und Pinzette aus dem Instrumentenkorb nahm, ein kleines Stück des sonderbaren Gewebes löste und in eine Petrischale legte. Isoliert in der Glasschale glich es verblüffend einem Stück schmutzig brauner Käsekruste. »Jetzt passen Sie auf!« Sie träufelte ein paar Tropfen destilliertes Wasser aus einer Pipette auf die Probe und wartete. Michel begann stumm zu zählen. Zehn Sekunden. Die Mitte der Probe verfärbte sich, wurde heller und, wie es schien, transparenter. Allmählich nahm das ganze Gewebestück diese durchscheinende gelbe Farbe an. Dann geschah plötzlich etwas so Unerwartetes, dass er unwillkürlich zurückschreckte. Die Probe zog sich zusammen, bildete eine Walze, begann langsam gegen den Rand der Schale zu kriechen wie eine gelbe, schleimige Nacktschnecke – das genaue Abbild des Dings, das aus der Nase des toten Lorenzo gekrochen war.
»Es lebt!«, rief er albern. Er spürte, wie sich seine Nackenhaare sträubten.
»Scheint so«, bemerkte die Pathologin trocken. »Ich weiß, es klingt verrückt, aber wie Sie sehen, stammt die seltsame Kreatur aus dem Hippocampus des Verstorbenen.«
»Aber – das ist vollkommen unmöglich. So etwas hätte sich längst auf Lorenzos Hirntätigkeit auswirken müssen.«
»Sie sind der Spezialist«, antwortete sie achselzuckend. »Haben Sie bei Ihrem Freund wirklich keinerlei Anzeichen einer pathologischen Veränderung entdeckt? Konzentrationsschwäche, gestörte Wahrnehmung oder Ähnliches?«
Michel schüttelte energisch den Kopf. Lorenzo benahm sich in den letzten Tagen so wie er ihn immer gekannt hatte, außer, ja, außer am letzten Morgen im Wald. Niemand konnte sich vorstellen, was dort geschehen war. Resigniert sagte er: »Es ist sinnlos, zu spekulieren. Solange wir nicht genau wissen, worum es sich bei diesem Schleim handelt, lässt sich nichts über dessen Auswirkung auf die Hirntätigkeit aussagen.« Er zögerte, sprach dann aber den Gedanken doch aus, der ihm eben durch den Kopf ging: »Gut möglich, dass das Ding im lebenden Organismus eine Art Symbiose eingegangen ist und sich erst nach dem Tod losgelöst hat.«
»Wie auch immer«, antwortete die Pathologin skeptisch. »Das Labor wird hoffentlich Licht in die Angelegenheit bringen. »Jedenfalls scheint es sich tatsächlich um eine selbständige Lebensform zu handeln. Ich habe zwar noch nicht beobachtet, dass es sich vermehrt, aber es reagiert auf äußere Reize.« Sie löste in einem anderen Schälchen ein wenig Traubenzucker im Wasser auf, sog die Lösung in die Pipette und
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