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Natürliche Selektion (German Edition)

Natürliche Selektion (German Edition)

Titel: Natürliche Selektion (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: H. J. Anderegg
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Operationstisch kniff die Augen zusammen. Seine Lippen bewegten sich, als wollte er etwas sagen.
    »Nur zu, Monsieur Prevost, reden Sie mit mir«, ermunterte ihn Michel, während er die Reaktion des Mannes genau beobachtete und gleichzeitig die Monitore nicht aus den Augen ließ.
    »Zahnarzt«, murmelte der Patient heiser. Der Anflug eines Lächelns umspielte seinen Mund. Ein gutes Zeichen. Der Mann schien sich den Umständen entsprechend wohl zu fühlen.
    »Sie meinen das Geräusch. Wie der Bohrer eines Zahnarztes. Unangenehm, nicht wahr?« Es war jetzt besonders wichtig, mit dem Patienten zu reden, seine Hirntätigkeit anzuregen. Seine Antworten und die Art, wie er sprach, gaben ihm unmittelbaren Feedback über die Wirkung des Eingriffs. Sein Assistent fuhr den Apparat zurück, mit dem er ein kaum sichtbares Loch in Monsieur Prevosts Schädeldecke gebohrt hatte. Gleichzeitig führte Michel den feinen Schlauch des Lasers ein und kontrollierte dessen Position über die beiden Bildschirme des MRI Scanners. Die Lokalanästhesie sorgte dafür, dass der Patient, obwohl bei vollem Bewusstsein, nichts von all dem spürte. Nur das Geräusch des Bohrers hatte er gehört. »Die nächste Generation soll völlig geräuschlos arbeiten, sagt man. Wie fühlen Sie sich, haben Sie Schmerzen?«
    Die Antwort kam schnell und wie erwartet: »Nein.« Nach kurzem Zögern fügte der Patient mürrisch hinzu: »Schießen Sie schon los, Doktor, verdampfen Sie das elende Krebsgeschwür!«
    Michel schmunzelte trotz der Anspannung unter dem Mundschutz. Die Spitze des Lasers zeigte genau auf das Karzinom. Wenige gezielte Schüsse hatten bereits die Hälfte der Krebszellen vernichtet, wie ihm die Farbveränderung am Monitor bestätigte. Der Assistent meldete laufend leise die Temperatur des Instruments und regulierte dessen miniaturisierte Wasserkühlung. Die Überhitzung des Lasers war eines der größten Risiken, das hatte Michel seinem Team immer wieder eingeschärft während der Vorbereitung. Es war das erste Mal, dass ein solcher minimal-invasiver Eingriff zur Bekämpfung eines Hirntumors an der Salpêtrière durchgeführt wurde. Michels Gesellenstück sozusagen, für ihn bereits Routine, Neuland für das Team. Bis jetzt verlief alles ohne Komplikationen. Es sah ganz danach aus, dass er den Patienten schon bald mit guter Diagnose entlassen könnte. Ohne den Eingriff hätte er ihm kaum mehr als drei Monate gegeben.
    Während er wartete, bis sich die Temperatur wieder senkte, sprach er weiter beruhigend auf den Patienten ein. In wenigen Minuten gelang es ihm, den Krebsherd und die, glücklicherweise, wenigen Metastasen im Anfangsstadium mit seinem Laser abzutöten. Er begann, den feinen Schlauch herauszuziehen. »Fertig, Monsieur Prevost. Sie haben das wunderbar gemacht«, sagte er zum verdatterten Patienten. Dann nickte er dem Assistenten zu und er begann, die Wunde zu verschließen.
    »Ich dachte – Sie haben noch nicht angefangen«, stammelte der Patient.
    »Das ist ein alter Trick von uns Medizinern«, lachte Michel. »Es sieht gut aus. Wir behalten Sie noch einen oder zwei Tage hier zur Beobachtung, dann steht Ihren Skiferien nichts mehr im Weg. Ich wünsche Ihnen jedenfalls jetzt schon Hals- und Beinbruch.«
    Erleichtert schaute er zu, wie die Pfleger seinen ersten Laserpatienten aufs Krankenbett legten und aus dem OP rollten. Die Premiere war geglückt. Er bedankte sich beim Team und zog sich rasch zurück. Bis zum nächsten Eingriff blieben ihm noch zwei Stunden, genügend Zeit für sein Rendezvous mit Doktor Lombard. Er entsorgte seine Schutzkleidung, wusch sich und verließ die Chirurgie. Valérie Lombards Reich befand sich im Untergeschoss eines andern Gebäudes. Er arbeitete erst seit wenigen Tagen am Hôpital Pitié-Salpêtrière, diesem Moloch des Gesundheitswesens, einer kleinen Stadt in der Stadt. So wunderte er sich nicht, dass er zwei Anläufe und ein längeres Interview mit einer äußerst hilfsbereiten Schwester brauchte, um die Unterwelt der Pathologin zu finden.
    Er trat durch die automatische Schiebetür mit der sinnigen Aufschrift ›Pathologie – Zutritt nur für berechtigte Personen‹. Der Korridor dahinter war dunkel bis auf einen grellen Lichtschimmer, der aus einer offenen Tür drang.
    »Immer zum Licht, wie die Mücken«, rief eine tiefe Frauenstimme aus dem erleuchteten Zimmer. Er trat ein und sah eine hagere Gestalt mit randloser Brille und rabenschwarzem Haar in keckem Pagenschnitt am Labortisch sitzen. Die

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