Natürliche Selektion (German Edition)
verstehen.«
»Selbstverständlich, Ihr Name fällt bei mir unter das Arztgeheimnis«, beruhigte sie lächelnd. Ihre Gedanken waren schon vollauf damit beschäftigt, die heikle Liste abzuarbeiten, als sie sich verabschiedete. Fast hätte sie seine letzte Bemerkung überhört:
»Hoffentlich haben Sie Erfolg.«
Um keine Zeit zu verlieren, setzte sie sich in die Cafeteria und nahm sich die Namen vor. Die zwei Politiker aus dem Élysée konnte sie gleich vergessen, den Staatsanwalt auch, zumindest bis auf weiteres. Sie entschloss sich, bei den weniger bekannten Namen anzuklopfen. Rosenbergs Liste machte ihr die Arbeit leicht. Bei den meisten Namen hatte der Professor fein säuberlich Adressen und Telefonnummern notiert, so verzichtete sie auf langwierige Vorabklärungen und rief den ersten Kandidaten an. Sie rechnete damit, dass der Überraschungseffekt den einen oder andern zum Reden bringen würde.
Was an ihrer Theorie nicht stimmte, erfuhr sie schnell beim ersten Anruf. Statt des Finanzchefs der Versicherungsgesellschaft meldete sich das »Vorzimmer Dr. Gallo, was wünschen Sie?«
»Dr. Eleonora Bruno. Ich möchte bitte mit Dr. Gallo sprechen.«
»In welcher Angelegenheit bitte?«
Schon lag ihr die Antwort »privat« auf der Zunge, da entschied sie sich für die geschäftliche Variante: »Es geht um seinen Arzttermin bei mir. Ich muss etwas vorbesprechen.«
»Dr. Bruno, sagten Sie? Tut mir leid, der Herr Direktor hat keinen Termin mit Ihnen. Sie müssen sich irren.«
Sie war sprachlos. Was bildete sich diese Kuh ein? Aber recht hatte sie, und ihr selbst waren die guten Antworten ausgegangen. Sie zögerte so lange, bis das Vorzimmer vorschlug:
»Ich werde Dr. Gallo informieren. Kann er Sie unter dieser Nummer zurückrufen?«
»Ja – natürlich – danke«, stammelte sie und legte auf. Auf welchem Planeten lebte sie eigentlich? Wie konnte sie nur so blöd sein, sich einzubilden, die Leute auf dieser Liste könnte sie einfach ans Telefon bekommen wie den Pizzakurier? »Leo, du wirst alt«, seufzte sie und meinte es nur halbwegs ironisch. Sie leerte ihren Schwarzen und versuchte es trotzdem weiter. Nach vier erfolglosen Konversationen hatte sie gelernt, dass dieser Menschenschlag und ihre Entourage die Kunst des Niemals-direkt-erreichbar-seins perfekt beherrschten.
Entnervt knallte sie die Liste auf den Tisch. Sie wendete das Blatt, nur um die verhassten Namen nicht mehr ansehen zu müssen, und stutzte. Die Liste ging weiter auf der Rückseite. Nur ein Eintrag stand da, aber er unterschied sich gründlich von allen andern. Keine Berufsbezeichnung, keine Telefonnummer, noch nicht einmal eine Adresse, nur der nackte Name. Sonderbar, ein Eliteschüler des ›X‹ ohne wichtige Funktion und klingenden Titel? Nahezu undenkbar. Sofort rief sie die Telefonauskunft an. Ganze drei Anschlüsse gab es unter diesem Namen, keiner davon in Paris. Ohne große Hoffnung rief sie auch diese drei Nummern an. Zwei gehörten alten Männern, bei der dritten nahm eine wütende Frau ab, die ihren Ex verfluchte. Niemand hatte je eine höhere Schule besucht.
Es war Zeit, mit Audrey zu reden. Zehn lange Minuten später kannte sie den Lebenslauf des René Jacob, soweit ihn die Dateien der Behörden und Schulen dokumentierten. Er war ein erfolgreicher Student der Molekularbiologie am ›X‹, vier Semester hinter Patrick, bis er sein Studium mitten in der Doktorarbeit von einem Tag auf den andern abbrach. Seither lebte er von der Sozialhilfe. Aber er war in Paris registriert und besaß eine Handynummer. Sie erreichte ihn auf Anhieb.
»Was wollen Sie?«, fragte er nicht eben freundlich. Im Hintergrund hörte sie laute Stimmen, Gelächter und Rockmusik. »Hallo, könnt ihr mal einen Augenblick die Klappe halten?«, brüllte er ins Telefon. Der Lärm ging unvermindert weiter, also antwortete sie lauter als üblich:
»Ich möchte mit Ihnen über den Colonel sprechen.«
Er fluchte: »Merde, nicht so laut!« Sie hörte, wie eine Tür zuknallte. Sofort wurde es ruhiger, und er sprach leise weiter: »Sie suchen dieses Schwein? Gut, aber reden wir nicht am Telefon. Dieser Anschluss hat Ohren.« Zu ihrer Verblüffung hob er die Stimme noch einmal und rief wütend: »Habt ihr das gehört, ihr Scheißkerle?«
Dieser Herr Jacob litt womöglich unter Verfolgungswahn, trotzdem schien er geradezu erpicht darauf zu sein, mit ihr über den Colonel zu reden.
Als sie an der Straßenecke eintraf, wo sich die Rue de Seine mit der Rue de Buci kreuzte,
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