Natürliche Selektion (German Edition)
dass er am meisten Grund hatte zu triumphieren, als sie in der Klinik das Handtuch warf. Wollte er sie endgültig aus dem Verkehr ziehen? War es sein Versuch, sie so daran zu hindern, ihre Nase weiter in seine Angelegenheiten zu stecken? Mit einem Mal erschien ihr der Gedanke an Colonel Muehlberg nicht mehr gar so absurd. Audrey sollte sich die Vergangenheit dieses Herrn auf jeden Fall genauer ansehen.
Leo betrat die Grosse Halle der École Polytechnique bei Palaiseau südlich von Paris. Sie war das erste Mal im ›X‹, wie man die ehemalige Militärakademie gemeinhin nannte. Die nüchterne Stahl- und Glas-Konstruktion des Campus befremdete sie. Diese Architektur wollte nicht zum Bild einer über zweihundert Jahre alten Institution passen.
Professor Rosenberg erwartete sie bei der Ehrentafel der Gönner, die sich wie ein Who’s who der noblen Gesellschaft las, wie ihr ein kurzer Blick bestätigte. Die Begrüßung war kurz und distanziert. Er stellte gleich zu Beginn klar, dass sie hier nur vorübergehend geduldet war:
»Wie gesagt, Madame, meine Zeit ist leider sehr knapp bemessen. Ich muss Sie also bitten, sich kurz zu fassen.« Er führte sie zu einer Sitzgruppe in der Nähe der Bibliothek, setzte sich und warf ihr einen auffordernden Blick zu.
»Professor Rosenberg, ich werde ihre kostbare Zeit nicht über Gebühr in Anspruch nehmen. Sie wissen, dass Dr. Tom Ribaut mir empfohlen hat, Sie aufzusuchen. Er meinte, Sie könnten mir vielleicht mit einer Auskunft weiterhelfen.« Er sah sie unverwandt an, zeigte keine Regung und wartete. »Im Grunde habe ich nur eine einzige Frage an Sie«, fuhr sie fort. »Wer ist der Colonel und wo finde ich ihn?« Keine Regung. Seine Antwort kam zögernd, aber sie überraschte sie vollkommen:
»Das wüsste ich auch gerne.«
»Wie darf ich das verstehen?«, fragte sie konsterniert.
»Genauso wie ich es sagte. Es gibt in dieser Institution einige Herren, die den Rang eines Obersten bekleiden oder bekleideten, wie Sie sich vorstellen können. Keiner aber, den ich kenne, wurde je einfach ›der Colonel‹ genannt. Colonel bezeichnete ein Phantom, einen leeren Mythos, dem romantischen Geist heranwachsender Akademiker entsprungen – dachte ich jedenfalls lange Zeit.«
Leo schüttelte den Kopf und sagte nachdrücklich: »Dieser Colonel existiert, das steht fest, und er ist gefährlich.«
»Das denke ich auch, seit sein Name im Zusammenhang mit dem tragischen Suizid meines besten Studenten auftauchte.«
Sie begriff schnell. »Sie sprechen von Patrick Fournier?«
»Ja«, antwortete er verwundert. »Kannten Sie ihn?«
Seine Zeit schien plötzlich nicht mehr gar so kostbar zu sein, also beschloss sie, ihm die Zusammenhänge in wenigen Worten zu schildern. Verlieren konnte sie nichts. Patricks Tod beschäftigte ihn offensichtlich, ein guter Hebel, um ihn aus der Reserve zu locken.
Als sie wieder schwieg, starrte er eine Weile nachdenklich vor sich hin, bevor er kaum vernehmbar bemerkte: »Der Colonel hat ihn auf dem Gewissen. Das haben die auch gesagt, und ich dachte, es sei ein schlechter Scherz.«
»Wer sind die?«
Statt zu antworten, erhob er sich und forderte sie auf: »Bitte folgen Sie mir.« Er ging voran zu den Aufzügen. Im obersten Stockwerk stiegen sie aus, folgten einem langen Korridor bis ans Ende. Schweigend betraten sie eines der fast rundum verglasten Eckbüros. Er zeigte auf die Polstersessel gegenüber dem Schreibtisch. »Nehmen Sie Platz«, lud er sie ein und setzte sich an seinen Computer. Sie brauchte nicht lange zu warten, bis er mit einer Liste zu ihr trat, die er eben ausgedruckt hatte. Er reichte ihr das Papier mit der Bemerkung: »Behandeln Sie die Liste vertraulich, und seien Sie vorsichtig, wenn Sie die Leute kontaktieren.«
Ein Blick genügte, und sie wusste, weshalb er sie zur Vorsicht mahnte. Die Liste enthielt die Namen zweier Mitglieder des Kabinetts, den Pariser Oberstaatsanwalt, Maître Fabergé, den wohl bekanntesten Strafverteidiger der Stadt, den Vizepräsidenten der Nationalbank und eine Reihe weiterer Namen, hinter denen sie Wirtschaftskapitäne vermutete. »Ich verstehe«, sagte sie nur und ließ die brisante Liste in ihrer Handtasche verschwinden.
»Unnötig zu erwähnen, dass all diese Leute ehrenwerte Alumni dieser Institution sind«, betonte er. »Ich pflege gute Kontakte zu ihnen und möchte auf keinen Fall im Zusammenhang mit Ihrer Suche nach dem Colonel genannt werden. Ich denke, das können Sie
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