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Natürliche Selektion (German Edition)

Natürliche Selektion (German Edition)

Titel: Natürliche Selektion (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: H. J. Anderegg
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unverändert wiederholte, sagte sie leise: »Es müssen Tausende gewesen sein.«
    »Ja, das ist auch gut so, denn nur ein ganz kleiner Teil der Jungen überlebt.«
    »Wie kommt es, dass Sie den Zeitpunkt so genau kannten?«
    Er lachte. »Das war natürlich Bluff. Ich bin kein Hellseher, aber ich komme regelmäßig hierher, und vor vier Tagen habe ich die ersten Bewegungen in den Nestern bemerkt. Die Kleinen brauchen etwa vier Tage, um sich auszubuddeln.«
    »Unglaublich.«
    Er musterte sie schmunzelnd und fragte: »Na, zuviel versprochen?«
    »Diesmal nicht, gebe ich ungern zu.«
    Er lichtete zufrieden den Anker und setzte sein Gefährt wieder in Bewegung. Gemächlich tuckerten sie der Küste entlang nach Cayenne zurück. Die Lichter der Stadt erschienen am Horizont und erinnerten sie wieder an die Fragen, die sie Tom noch stellen musste.
    »Hat sich der Colonel ausschließlich mit der Behandlung von Traumata befasst?«, wollte sie unvermittelt wissen.
    »Nein. Seine Forschungsarbeit ging viel weiter. Er hat sich intensiv mit der Früherkennung und Prophylaxe schizophrener Veränderungen beschäftigt. Dabei muss er eine wichtige Entdeckung gemacht haben, über die er nie sprach. Ich habe nur zufällig ein Telefongespräch mitgehört, das er mit einem Forschungsinstitut geführt hat. Dabei ging es um gezielte Erhöhung des Acetylcholin-Pegels. Das hat mir, ehrlich gesagt, einen ziemlichen Schreck eingejagt.«
    Die Antwort elektrisierte sie, obwohl sie etwas Ähnliches erwartet hatte. »Ein Neurotransmitter!«, rief sie erregt. »Er wollte die Kommunikation zwischen Neuronen verbessern. Hirnkosmetik?«
    »In diese Richtung ging es wohl«, stimmte er zu.
    Waren Michel und seine Freunde solchen Versuchen ausgesetzt worden? Je länger sie darüber nachdachte, desto besser passte alles zusammen. »Ich muss diesen Colonel finden«, sagte sie mit Nachdruck.
    »Ich nehme an, das war eine Frage«, grinste er.
    »Und ob. Helfen Sie mir, ihn zu stellen, bevor er noch mehr Unheil anrichtet.«
    »Würde ich gerne, aber ich habe den direkten Kontakt zu ihm schon lange verloren. Sie brauchen aber nicht gleich aus Verzweiflung ins Wasser zu springen. Ich weiß aus zuverlässiger Quelle, dass er nach seiner Navy-Zeit ins Land seiner Väter zurückgekehrt ist.
    »Nach Frankreich?«
    Er nickte. »Nach Paris, um genau zu sein. Er hat dort eine Zeitlang an der École Polytechnique gelehrt.«
    Sie fürchtete, auf der Stelle in Ohnmacht zu fallen. Wie im Traum nahm sie seine Worte wahr. Hatte er eben Paris gesagt? War sie um die halbe Welt gereist, nur um das Monster in ihrem Hinterhof zu finden? »Das glaube ich nicht«, stöhnte sie gequält.
    Er zuckte die Achseln und meinte nur: »Ihre Entscheidung.«
    »Haben Sie wenigstens ein Foto von ihm?«
    »Nein«, antwortete er eine Spur zu bestimmt. Er legte wohl keinen Wert auf solche Erinnerungen. »Aber ich gebe Ihnen die Adresse des Freundes, von dem die Information stammt. Er arbeitet immer noch am ›X‹.«
    Leo dachte an die lange Nacht, in der sie Audrey mit ihren Fragen löchern würde, und fühlte sich plötzlich hundemüde.
Palaiseau bei Paris
    Der Schluss ihrer Tochter schien Leo plausibel. In den Dateien von Interpol und in den zugänglichen Militärakten der USA verlor sich die Spur des Neurologen Professor Dr. Théodore Garnier, als er kurz nach der Schließung der Klinik auf Puerto Rico den Dienst bei der Navy quittierte. Kaum waren sie aus der Karibik zurückgekehrt, hatte Audrey die Suche in Frankreich intensiviert, kein Schuljahrbuch und kein Sterberegister ausgelassen. Trotzdem tauchte der Name des Colonel nirgends auf. »Er hat den Namen gewechselt«, war ihre einzig logische Erklärung. Mit den Beschreibungen des gesuchten Mannes konnten sie beide nicht viel anfangen. Zu vage und vor allem veraltet waren sie. Trotzdem wollte ihr ein Verdacht nicht mehr aus dem Sinn, der sie schon bei der Unterhaltung mit Maria auf Vieques beschlichen hatte. Gestalt und Alter des Colonel passten auf einen alten Bekannten, noch bedenklicher das militärische Gehabe, der nur schlecht unterdrückte fremde Akzent und letztlich der seltsame Name. All das traf auf ihren Lieblingsfeind an der Salpêtrière zu: Privatdozent Dr. Sebastian ›Bastien‹ Muehlberg.
    Ärgerlich schüttelte sie den Gedanken ab. Eine paranoide Vorstellung, schalt sie sich. Warum sollte ausgerechnet ihr langjähriger Rivale der monströse der Colonel sein? Solche Zufälle gab es nicht. Und doch war nicht zu leugnen,

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