Natürliche Selektion (German Edition)
drängte sie.
Er warf ihr einen gequälten Blick zu, als er antwortete: »Plötzlich ging alles sehr schnell. Der Colonel arbeitete sehr eng mit RDC zusammen. Er war so etwas wie die graue Eminenz in dieser Firma. Eines Tages zeigte er mir freudestrahlend ein neues Medikament, das seine Traumatherapie um ein Vielfaches effizienter machte, wie er versicherte und durch Studien belegte. Wir hatten damals gerade sechs besonders schwere Fälle in Behandlung.«
»Stefanski und seine Kameraden.«
»Ja, genau wie Maria Ihnen erzählt hat. Die neue Therapie beruhte auf Superposition traumatischer Erinnerungen durch systematische, medikamentös verstärkte Gegenkonditionierung.«
»Sie überlagerten die negativen Erinnerungen mit suggerierten positiven, wie man es mit Michel und seinen Freunden gemacht hat«, murmelte sie ergriffen. »Es ist also tatsächlich so geschehen.«
»Sieht so aus, ja. Die Methoden gleichen sich, aber im Fall Ihres Verlobten muss eine Weiterentwicklung des Medikaments eingesetzt worden sein, sonst wären auch jene Männer kurz nach der Behandlung gestorben.«
»Maria sagte mir, die Leichen der sechs Soldaten seien verschwunden.«
Ein bitteres Lächeln umspielte seinen Mund. »Verschwunden ist nicht das richtige Wort«, meinte er. »Der Colonel hat sie konfisziert, müsste es heißen.«
»Konfisziert?«
»Ja, Sie haben schon richtig verstanden. Er wollte um jeden Preis verhindern, dass wir sie obduzieren und ließ sie bei Nacht und Nebel abtransportieren. Im Grunde bin ich nicht einmal sicher, dass die Patienten wirklich tot waren. Er selbst hat die Totenscheine ausgestellt und die Formalitäten erledigt.«
»Sieht ganz nach einer hektischen Vertuschungsaktion aus.«
»Das können Sie laut sagen. Wir gerieten damals heftig aneinander. Es fehlte nicht viel, und ich wäre ihm an die Kehle gesprungen, aber ich musste mich zurückhalten. Er war schließlich der Kommandant der Einrichtung und mein Vorgesetzter. Ein paar Tage später gab es die Klinik nicht mehr, aber auch das wissen Sie schon von Maria.«
Zwei Generationen von Medikamenten für die Bewältigung schwerer psychischer Störungen, aus derselben Hexenküche, ahnungslosen Patienten verabreicht von diesem Colonel. Leo zweifelte nicht mehr daran, dass er letztlich Michels Tod verursacht hatte. Was sie aber noch immer nicht verstand, war der Grund, weshalb ihr Geliebter und seine Freunde überhaupt einer Traumatherapie unterzogen wurden. Was war der Auslöser? Sie formulierte die Frage, doch Tom hörte nicht mehr zu.
»Wir sind da«, sagte er nur und steuerte das Boot vorsichtig in eine einsame, sandige Bucht, so nah ans Ufer, wie der Kiel es zuließ. Dann stellte er den Motor ab und warf den Anker aus. Er rückte eine Kiste an die Reling und lud sie ein, sich zu ihm zu setzen. Von diesem Sitzplatz aus konnten sie die ganze Bucht überblicken. »Es kann jede Minute soweit sein«, murmelte er aufgeregt, während er angestrengt das Ufer beobachtete.
»Wollen Sie mir nicht endlich sagen ...« Die Frage blieb ihr im Halse stecken. Im letzten Licht des Tages begann sich der Sand des flachen Strandes auf ein geheimes Kommando an Dutzenden, Hunderten verschiedener Stellen gleichzeitig zu bewegen. Häufchen schichteten sich wie von Geisterhand auf, und bald spritzte der Sand auf alle Seiten. Dann guckten die ersten kleinen Schwerarbeiter aus den Löchern. »Schildkröten«, murmelte sie staunend. Die Bucht war übersät von diesen Tierchen, die sofort dem Wasser zustrebten. Eine Explosion neuen Lebens hauchte der Bucht selbst Leben ein. Mit offenem Mund beobachtete sie den ersten Kampf der Schildkrötenbabies mit den Elementen, gegen die Vögel, die sich immer zahlreicher einfanden für den fettesten Fang des Tages, bis die Welle verebbte und wieder Ruhe am Strand einkehrte. »Das also sind Ihre Kinder«, lächelte sie schließlich, den Blick noch immer verzaubert auf den Strand gerichtet.
»Leatherbacks, Lederschildkröten«, nickte er. »Schwer zu glauben, dass aus diesen kaum fünfzig Gramm leichten Winzlingen fast zwei Meter große Riesenschildkröten werden können mit einem Gewicht von einer halben Tonne. Es sind unglaublich eindrucksvolle Tiere. Ihre direkten Vorfahren haben die See schon durchpflügt, als die Dinos die ersten Federn erfanden. Das muss man sich einmal vorstellen. Jedes Jahr schwimmen sie tausende von Kilometern, um hier ihre Eier abzulegen.«
Überwältigt vom Schauspiel, das sich seit Millionen von Jahren
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