Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Natürliche Selektion (German Edition)

Natürliche Selektion (German Edition)

Titel: Natürliche Selektion (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: H. J. Anderegg
Vom Netzwerk:
deinen Computer lässt. Die Zahlen in der Botschaft sind einfach GPS-Koordinaten, hast du das nicht bemerkt?« Soviel zu Bildungslücken , dachte sie zufrieden. »Ich nehme an, es handelt sich um nördliche Breite und östliche Länge.«
    Der Ort auf 48.4501389 Grad, oder 48 Grad, 27 Minuten, 0.50 Sekunden nördlicher Breite und einem Grad, 29 Minuten, 23.6 Sekunden östlicher Länge befand sich in Frankreich. Es war die genaue Bezeichnung der Kirche Saint-André in Chartres, keine hundert Kilometer südwestlich von Paris.
    »Eine Kirche«, staunte Leo. »Sie werden doch dort keine schwarze Messe zelebrieren?«
    »Ehemalige Kirche. Sie wird offenbar schon lange unter der Bezeichnung Collégiale Saint-André für Ausstellungen, Konzerte und so was verwendet. Wir werden ...«
    Die Türklingel unterbrach sie. Überrascht schaute sie auf die Uhr und sprang auf, als fürchtete sie nichts so sehr wie den unbekannten Gast. »Mist! Er ist schon da, und ich bin überhaupt nicht – ich könnte mich ohrfeigen.« Selten genug, dass Edmond sie ausführte. Sie wollte ihn nicht auch noch mit wirrem Haar und abgetragenen Kleidern bestrafen. Eilig schlüpfte sie in ihr Zimmer, bevor Leo die Tür öffnete. Ihre Mutter hatte sich inzwischen mit ihrer Beziehung abgefunden, wenn man die paar Abende ohne Sex, die sie zusammen verbracht hatten, schon eine Beziehung nennen konnte. Aber was nicht war, konnte ja noch werden, da war sie ziemlich zuversichtlich.
    »Wie ich sagte: die hinreißende Tochter der entzückenden Mutter«, grinste Edmond, als sie im aufreizenden roten Minikleid mit dem frechen Gitterausschnitt ins Wohnzimmer zurückkehrte.
    »Spar dir dein Gesülze!«, riefen sie und Leo gleichzeitig, während er sie zärtlich küsste.
    »Pass lieber auf, dass sie nicht zuviel trinkt«, doppelte Leo nach. »Du weißt, meine Tochter verträgt keinen Alkohol.«
    Sein Grinsen wurde breiter. Die weißen Zähne blitzten, als er mit einem Seitenblick auf Audrey antwortete: »Da bin ich mir inzwischen nicht mehr sicher.«
    »Sehr witzig. Denkt einfach dran, dass morgen kein Feiertag ist. Auch wir zwei haben einiges vor, Audrey.«
    Sie war einen Augenblick lang versucht, sich gegen Leos Bemutterung zu wehren, dann ließ sie es bleiben. Leo konnte nicht anders, besonders wenn es peinlich war für alle Beteiligten.
    »Keine Sorge«, meinte Edmond. »Als Chefarzt bin ich sowieso der Erste in der Klinik.«
    »Chefarzt? Habe ich etwas verpasst?«
    Er lachte. »Nur vorübergehend, leider. Muehlberg hat sich für die nächsten zwei Wochen abgemeldet.«
    Muehlberg, der Lieblingsfeind ihrer Mutter. Vielleicht verbrachte er einen Teil seines Urlaubs in Chartres, dachte sie beim Hinausgehen.
Chartres
    Am Vorabend in Leos Wohnung war Audrey das Vorhaben durchaus sinnvoll erschienen. Jetzt aber, vierundzwanzig Stunden später auf der Terrasse des Café Serpente in der Altstadt von Chartres, fühlte sie sich nur noch deplaziert. Mürrisch schaute sie den letzten Touristen nach, die mit Fotoapparaten und Stadtplan um die Kathedrale schlichen, bevor sie sich wieder in ihr Hotel oder auf den Campingplatz davonstahlen. Leos Gesicht strahlte ebenso wenig Zuversicht aus. Wenn sie angenommen hatte, ihre Mutter wäre besser auf diese überstürzte Aktion vorbereitet, täuschte sie sich offensichtlich. Sie schwiegen sich geraume Zeit an, bis Leo herausplatzte:
    »Meinst du, wir können uns ohne weiteres unters Publikum mischen?«
    »Welches Publikum?«, gab sie gereizt zurück. Bisher hatten sie nur das übliche Volk entdeckt, das sich um die mittelalterlichen Sehenswürdigkeiten drängte. Die Kirche Saint-André unten am Fluss war geschlossen, als sie das letzte Mal vor einer halben Stunde nachgeschaut hatten. Selbst das Tor zum Kräutergarten war verriegelt. Das ehemalige Kloster döste verlassen hinter seinen Mauern. Nichts deutete auf nächtliche Besucher hin.
    Der laute Schlag der Glocke von Notre Dame übertönte Leos Antwort. Aufgeschreckte Tauben flatterten über ihren Tisch hinweg auf die Dächer der umliegenden Häuser. Zwanzig Uhr, noch zwei Stunden bis zur endgültigen Gewissheit, ob sie die Botschaft aus der Bibliothek verstanden hatten. Die acht Glockenschläge verhallten, die Tauben kehrten zurück, und Leo verzichtete darauf, ihre Antwort zu wiederholen. Wieder saßen sie schweigend nebeneinander, warteten auf den Viertelstundenschlag, die Zeit für ihren nächsten Rundgang. Wenigstens hatten sie vernünftiges Wetter erwischt für dieses

Weitere Kostenlose Bücher