Natürliche Selektion (German Edition)
fragwürdige Unterfangen. Es war immer noch angenehm warm nach einem heißen, schwülen Sommertag. Das erleichterte das Warten, änderte aber nichts daran, dass jede Minute zur kleinen Ewigkeit wurde.
Leo hielt es nicht länger auf dem Stuhl. Sie stand auf und sagte entschlossen: »Los, schauen wir nochmals nach.«
»Nur nichts überstürzen«, brummte Audrey, doch sie war dankbar für jede Abwechslung. Sie ließen den Wagen stehen und stiegen durch den Park am Fuß der Kathedrale zur Rue Saint-André hinunter. Schon von weitem sah sie, dass der Parkplatz unter den Linden vor dem Torgitter so leer war wie zuvor. Einzig ein kleiner, blauer Twingo wartete noch immer eingeklemmt zwischen Baumstamm und Treppe. Er sah nicht aus, als wollte sein Besitzer den Menschen neu erschaffen. Sie konnte einen ärgerlichen Ausruf nicht unterdrücken, und Leo pflichtete ihr ausnahmsweise sofort bei:
»Das kannst du laut sagen.«
»Ich hoffe für uns beide, dass wir einfach viel zu früh da sind«, seufzte sie, während sie zum dritten oder vierten Mal vergeblich am Gitter rüttelte. Nach ihren Informationen war dies der einzige Zugang zum Kloster. Auf allen Seiten war die Anlage vom Kirchenschiff und hohen Mauern umschlossen. Zudem grenzte das Grundstück an die Eure, den Fluss, der die Altstadt von Chartres gegen Osten abschloss. Daher beschränkten sich ihre Beobachtungen auf die Straßenseite und die Umgebung des Tors, ganz gegen die Regel, die man ihr auf der Polizeiakademie eingetrichtert hatte. Sie ließ vom Gitter ab und schaute zum Fluss. Der Fußweg, auf dem sie standen, führte der Mauer entlang zu einem Steg. »Wir sollten uns die andere Seite auch ansehen«, sagte sie und ging voraus. Beim Gang entlang dem Wasser wurde schnell klar, dass niemand von dieser Seite das Kloster betreten würde. Wie der Festungswall eines Wasserschlosses ragte die Rückwand des Chors aus der träge fließenden Eure. Trotzdem folgten sie der Strasse bis zur steinernen Brücke, die in elegantem Bogen zur Kirche zurückführte.
»Keine lausige Spur der Weltverbesserer«, schimpfte Leo ungehalten. »Haben wir alles komplett falsch verstanden? Was meinst du?«
»Glaube ich nicht, sieh mal!« Ein schwarzer Minibus schwenkte von der Strasse auf den Parkplatz ein, dicht gefolgt von einem Kleinlaster. Sie beobachteten aus sicherer Entfernung, wie vier Männer in dunklen Anzügen aus dem Bus stiegen und sich am Tor zu schaffen machten. Weitere Männer luden schwere Kisten aus dem Laster und schleppten sie zum Eingang. Das Team war bestens eingespielt. Alles ging rasend schnell und wortlos über die Bühne wie der routinierte Aufbau eines Zirkuszelts. Gebannt schauten sie zu, wie aus dem düsteren Gittertor in wenigen Minuten eine hell erleuchtete Empfangshalle aus königsblau und weiß gestreiftem Tuch entstand, komplett mit Personenscanner, Rezeption und einem Tisch mit Erfrischungen. Die Herren in den schwarzen Anzügen bezogen Posten an den strategischen Stellen vor und hinter dem Scanner. Einer begab sich auf den Parkplatz, bereit, weitere Fahrzeuge einzuweisen.
»Fehlen nur noch die Empfangsdamen«, spottete Audrey leise. Kaum hatte sie es gesagt, öffneten sich die Türen des Busses ein zweites Mal. Vier junge Damen in schwarzen Abendroben stiegen aus und besetzten ihre Plätze am Empfang und bei den Getränken.
»Voilà«, kommentierte Leo zufrieden. »Die Botschaft scheint doch kein Jux gewesen zu sein.«
»Glück gehabt. Ich bin bloß neugierig auf die Gäste.«
Der Platz, an dem sie standen, eignete sich gut für die Beobachtung. Im Dunkel der einbrechenden Nacht blieben sie so gut wie unsichtbar, aber die Entfernung zum Tor war zu groß, um Gesichter zu erkennen. Sie brauchten technische Unterstützung.
»Ich hole den Wagen«, sagte sie.
»Wozu denn das?«
Mit den Worten: »Fernglas. Warte hier«, schlich sie sich davon. Sie rannte die steile Strasse hinauf zur Kathedrale, um keine Zeit zu verlieren. Atemlos setzte sie sich ans Steuer und startete den Motor, da klingelte ihr Telefon.
»Edmond, pardon, ich habe jetzt wirklich keine Zeit«, keuchte sie, , noch bevor er sie begrüßte.
Er klang erschrocken. »Geht es dir gut? Wo ...«
»Ich bin in Ordnung«, unterbrach sie ungeduldig. »Wir sind in Chartres. Hör zu, ich muss auflegen. Es geht los.«
»Seid ihr verrückt – ihr könnt doch nicht ...«
Sie drückte die Beendigungstaste, legte den Gang ein und fuhr los. Beim nächsten Anruf ließ sie es läuten, bis er aufgab,
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