Natürliche Selektion (German Edition)
Nach ein paar Minuten klappte er das Handy wütend zu. »Diese Idioten sind taub, aber wir sind da«, knurrte er. Sein Kollege parkte mit quietschenden Bremsen genau vor der Türöffnung des kleinen Betonklotzes, der zusammen mit der einzigen Piste den bescheidenen Flugplatz von Humacao bildete. Das menschenleere Innere des Gebäudes strahlte den Charme einer unbenutzten Garage aus. Eine Tür ging auf. Ein dickes Männchen, dessen Gesicht unter der riesigen Schirmmütze kaum zu sehen war, humpelte ihnen entgegen. Der Mann beschwerte sich wortreich bei den Polizisten. Audrey verstand kein Wort. Vielleicht war es auch nur seine Art, sich zu entschuldigen.
»Verdammt!«, fluchte der Polizist, der telefoniert hatte. »wir sind zu spät. Der Flugleiter sagt: die Beechcraft ist gestartet, mit Ziel Miami.«
»Holt sie zurück!«
Das Männchen nahm die Mütze ab und wischte sich den Schweiß von der Stirn. »Geht nicht, tut mir leid«, wehrte er verlegen ab. »Sie hat unsern Luftraum verlassen.«
Audrey sah, wie Leo mit grimmiger Miene zu einer Antwort ansetzte. »Wir brauchen den Flugplan und die Passagierdaten«, warf sie schnell ein, bevor ihre Mutter unnötig Geschirr zerschlug. Sie wandte sich an die Polizisten: »Wir müssen Kendall vernehmen.«
»Dr. Kendall ist mit an Bord«, bemerkte das Männchen mit der Schirmmütze schüchtern.
»Na toll. Würde mich wundern, wenn die tatsächlich nach Florida fliegen.«
Sie hatten hier nichts mehr verloren. Mit den Papieren des Flugleiters fuhren sie zur Fabrik zurück. Audrey wusste besser als die andern, dass die Informationen über das Flugzeug und seine Passagiere nicht viel taugten. Gegen Kendall lag nichts vor, und um den Colonel zu stoppen, benötigte sie einen internationalen Haftbefehl, für den die Indizien noch nicht ausreichten. Sie besaß noch nicht einmal ein brauchbares Foto vom Gesuchten.
»Der hat einen Tipp bekommen«, knurrte Leo zähneknirschend, als sie zum Haus II-A hetzten. Die Männer des Inspektors hatten Kendalls Arbeitszimmer schon durchsucht. Der Chef-Pharmakologe schien ein Anhänger des papierlosen Büros zu sein. Die einzigen Papiere, die sie fanden, waren ein Stapel Fachzeitschriften, Bücher und das Foto seiner Familie beim Grill am Pool. Keine Agenda, kein loses Blatt, kein Klebezettel am Bildschirm. Sie wunderte sich nicht mehr, dass auch kein Drucker oder Faxgerät im Zimmer stand.
»Gibt der Computer was her?«, fragte Audrey den Beamten, der diesen Sektor bearbeitete.
Er zuckte die Achseln. »Wissen wir noch nicht. Niemand kennt das Passwort.«
»Sekretärin, Assistent, der Direktor?«
Kopfschütteln.
Sie hatte nichts anderes erwartet, aber das war ihr Spezialgebiet. »Schaffen Sie mir den System-Manager her.«
Der Manager war eine junge Frau, die glücklicherweise früh zur Arbeit erschien. Nach wenigen Minuten besaß Audrey das System-Passwort und hatte den Zugang zu Kendalls Benutzerkonto freigeschaltet.
»Nun?«, drängte Leo.
»Du kannst gerne zusehen, aber es geht deswegen nicht schneller.«
Leo rückte ihren Stuhl noch näher.
»Du nervst, wollte ich sagen.«
»Ich weiß. Sieh dir mal die Mails an. Es gibt bestimmt Mailverkehr mit dem Colonel.«
Es war zwecklos. Sie versuchte, Leo so gut es ging zu ignorieren und konzentrierte sich auf ihre Arbeit. Sie steckte den winzigen Speicher-Stick mit dem Analyseprogramm aus der Zentrale in Lyon in den USB-Port des PCs. Die Spezialsoftware erstellte in wenigen Sekunden ein übersichtliches Protokoll aller Aktivitäten, die von diesem Computer aus in den letzten Stunden oder Tagen stattgefunden hatten. Sie brauchte die Tabellen nur kurz zu studieren, um zu wissen, womit sich Kendall zuletzt beschäftigt hatte.
»Du hast recht«, murmelte sie. »Heute Morgen sind ganze 78 Dateien gelöscht worden. Das ist kein Zufall. Er war gewarnt.«
Leo antwortete nicht. Erst als sie sich verwundert umdrehte, bemerkte Audrey, dass sie allein war im Büro. Kopfschüttelnd setzte sie die Arbeit fort. Sie hielt es für verlorene Zeit, die übrigen Ordner und Dokumente genau anzusehen. Interessant war vor allem die gelöschte Information. Wenn sie Glück hatte, waren die Daten noch vorhanden, aber es konnte dauern, sie zu rekonstruieren. Später , dachte sie und widmete sich Kendalls Mailverkehr. Sein Eingangsfach enthielt fünf ungelesene Meldungen, vier davon stammten von Mitarbeitern, eine warb für ein verbilligtes Zeitungsabonnement. Nichts von Bedeutung.
Sie schaute sich seine
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