Natürliche Selektion (German Edition)
hast«, lächelte Michel etwas gequält.
»Für dich immer, mein Sohn.« Er ließ seinen Gast eintreten und schloss die Tür des Büros. »Ich nehme an, es geht um den armen René. Ihr wart gute Freunde. Schrecklich – tut mir sehr leid, was geschehen ist.« Sie setzten sich auf die gleichen Polster, wo sie vor noch nicht allzu langer Zeit über Lorenzos Tod gesprochen hatten, ratlos, betroffen wie jetzt.
»Noch vor ein paar Monaten stand er in deiner Schwarzbrennerei und betrachtete den antiken Destillationsapparat mit Ehrfurcht wie eine Reliquie.«
Damien schmunzelte. »Die Grüne Fee. Möchtest du was trinken?« Michel schüttelte den Kopf, aber der Professor erhob sich trotzdem und holte die falsche Essigflasche aus der Bibliothek. »Entschuldige, ich brauche ein Gläschen«, murmelte er, während er sich eingoss. Genussvoll wartete er, bis sich das Aroma in seinem Gaumen entfaltete, bevor er den Branntwein schluckte, als müsste er ihn kauen. Er stellte das Glas auf den Tisch und der verzückte Ausdruck auf seinem Gesicht verschwand. »Damals, nach dem tragischen Ende eurer ›Petite Fugue‹ in meiner Hütte, war der Teufel los. Die wilden Spekulationen über eine unbekannte Pest ...«
»Ich weiß, Napoleon hat mir von den Amokläufen der Presse erzählt.«
»Der alte Napoleon, der ist Gold wert. Mit seiner Artillerie hat er das Schlimmste verhindert, aber die Jagd nach Außerirdischen hat mich trotzdem eingeschlagene Scheiben und den ganzen Schnapsvorrat gekostet.« Damien schüttelte angewidert den Kopf. Der Rummel nach Lorenzos Todessturz ging Damien offensichtlich näher, als er vermutet hatte.
»Na ja, zum Glück ist das Theater längst vorbei«, warf er ein.
Damien nickte zustimmend. »Ein ganz und gar unwürdiges Theater.« Wieder stand er auf. »Ich muss dir etwas Interessantes zeigen«, fügte er auf dem Weg in die Bibliothek hinzu. Als er zurückkehrte, blätterte er in einem dicken Folianten. »Sieh dir das an!«
Michel stockte der Atem, als er die Bilder sah. Perfekte Farbfotos des unbekannten Wesens, das er zum ersten Mal auf Lorenzos leblosem Gesicht gesehen hatte! Er war sprachlos.
»Ich dachte es mir«, murmelte Damien zufrieden. »Das ist das seltsame Alien, das deinen Freund Lorenzo in den Tod getrieben haben soll, nicht wahr?«
»Wie – was ist das?« Er brauchte jetzt auch ein Glas des ›Balsamico‹. Die Bilder zeigten das Lebewesen in seinen verschiedenen Stadien, zum Verwechseln ähnlich den Metamorphosen, die er seinerzeit in der Pathologie beobachtet hatte. Plötzlich erinnerte er sich, dass die heimlich entwendete Probe immer noch im Kühlschrank seines verwaisten Appartements den vergammelten Joghurts Gesellschaft leistete.
»Eumycetozoa. Man bezeichnet sie meist als Myxomyceten oder Schleimpilze.«
»Pilze?«
Damien schüttelte den Kopf. »Keine Pilze. Die Bezeichnung Schleimpilz ist irreführend. Es sind sehr interessante einzellige Lebewesen mit Eigenschaften von Tieren und Pilzen, die aber zu keiner der beiden Kategorien gehören.«
»Einzeller?«
»Auch irreführend. Genau genommen durchlaufen sie eine einzellige Lebensphase. Es sind Eukaryoten mit Zellkern und Zellmembran. Sie können sich aber in amorphe, vielkernige Plasmodien verwandeln, die zum Teil sehr rasch zu erstaunlich großen Strukturen heranwachsen. Wenn sie sich fortpflanzen, bilden sie schließlich Fruchtkörper mit Sporen, die manchmal wie kleine Pilzhüte aussehen, aber das kennst du ja.«
Michel betrachtete immer noch ungläubig die Bilder, die sonderbar fremdartig und bekannt zugleich anmuteten. »Toxisch?«, fragte er leise.
»Jedenfalls ist nicht bekannt, dass sie Menschen in den Wahnsinn treiben, wenn du das meinst.« Damien schob das Buch beiseite. »Weißt du, was ich glaube? Es war ein reiner Zufall, dass sich die Dinger auf Lorenzos Körper befanden. Schleimpilze trifft man überall im Wald an Baumrinden und Totholz. Man beachtet sie meist einfach nicht, und die wenigsten Leute haben je von ihnen gehört.«
»Zufall«, wiederholte er mechanisch. Seine Stimme klang gar nicht überzeugt. Wie sollte dieses seltsame Pilz-Tier Lorenzos Gehirn befallen haben? Noch etwas störte ihn an Damiens Erklärung, aber er wusste nicht, was es war. »Sein Suizid und Renés Selbstmord waren wohl auch nur Zufälle?«
Damien wehrte ab: »Von Zufall kann man bei einem Suizid natürlich nicht sprechen. Dazu gehört immer eine Vorgeschichte und meist eine Verkettung unglücklicher Ereignisse. Aber ich bin
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