Natürliche Selektion (German Edition)
aus, während sie aufsprang, um einen Lappen zu holen. Nicht genug, dass ihr Bild in diesem Blatt erschien, Alain stellte sie auch noch mit Beruf und Namen vor und spekulierte über Michels ›psychiatrische Betreuung‹ in dieser ›schweren Stunde‹. Das ging eindeutig zu weit. Wütend tigerte sie in der Wohnung auf und ab, überlegte fieberhaft, was zu tun sei, doch sie konnte eine Zeitlang keinen klaren Gedanken fassen. Der Schaden war schon angerichtet. Hunderttausende hatten das Foto gesehen, tausende den verheerenden Artikel gelesen. Sie fürchtete, Michel würde ausrasten, wenn er die Story zu Gesicht bekäme. »Besser, ich rede mit ihm«, murmelte sie und griff zum Telefon. Dreimal versuchte sie es, doch er war nicht zu erreichen.
Kurz vor zehn klingelte der Apparat endlich. Sie hatte das Telefon nach dem ersten Ton am Ohr und rief aufgeregt: »Michel! Ich muss unbedingt mit dir reden.«
»Und ich mit dir«, erwiderte eine resolute Frauenstimme.
Audrey! Das Blut schoss ihr in den Kopf, als hätte sie Ihre Tochter beim Fummeln erwischt. »Audrey, Liebes, wie geht es dir?« Sie versuchte, so harmlos wie möglich zu klingen.
»Mir geht es gut, danke, aber ich frage mich, ob das für dich auch gilt, Leo.«
Die Zeit, als Audrey sie noch mit »Maman« ansprach, war längst vorbei. »Warum, was meinst du damit?«
»Tu nicht so unschuldig. Ich lese auch Zeitung. Vor mir liegt die neuste Ausgabe der ›Aujourd'hui‹ mit einem ziemlich üblen Artikel aus Paris und einem sehr interessanten Foto von dir und diesem – Michel, den du unbedingt sprechen wolltest. In welchen Krimi bist du da hineingeraten?«
Sie hatte sich wieder gefasst und entgegnete trocken: »Krimis sind doch eigentlich deine Domäne, Audrey.«
»Du versuchst auszuweichen, wie so oft. Erklär mir lieber, was das alles mit dir zu tun hat.«
»Was meinst du?«
»Komm schon! Willst du mir weis machen, du hättest den Artikel nicht gelesen?«
Sie hatte nicht die Nerven, länger um den heißen Brei herum zu reden. »Du glaubst doch sonst auch nicht alles, was in der Zeitung steht«, antwortete sie müde. »Ich habe das Machwerk im ›Parisien‹ gelesen. Das Foto hat nicht das Geringste mit der Geschichte zu tun, das kannst du mir glauben.«
Audrey war nicht überzeugt. »Wie fühlt man sich denn so als ›attraktive Begleiterin‹?«, stichelte sie weiter.
»Ach, hör doch auf. Michel – Dr. Simon und ich arbeiten an derselben Klinik. Da kommt es schon vor, dass man mal miteinander spricht.« Dünnes Eis, Leo , dachte sie. Sehr dünnes Eis, aber sie wollte Audrey auf keinen Fall am Telefon über ihre Beziehung aufklären.
»Ist er dein Patient?«
»Du weißt genau, dass ich darüber auch mit dir nicht reden darf.«
Ihre Tochter bohrte weiter, hartnäckig wie sie schon immer war. Sie hatte besondere Antennen für heikle Gefühle und kleine Unsicherheiten anderer Leute. »Was läuft da zwischen dir und diesem smarten Wunderdoktor?«, fragte sie rundheraus.
Leo unterdrückte das kategorische Dementi, das ihr auf der Zunge lag. Nach kurzem Zögern sagte sie nur: »Ich glaube, wir sollten wieder einmal richtig miteinander reden. Aber nicht am Telefon.« Zu ihrer Überraschung fiel Audreys Antwort ungewöhnlich versöhnlich aus:
»Wahrscheinlich sollten wir das.«
Nach dem Ende des Gesprächs hing sie noch lange ihren trüben Gedanken nach, bis sie endlich aufstand, die Zeitung in den Papierkorb warf und sich anschickte, schlafen zu gehen. Sie lag mit offenen Augen im Bett, wartete vergeblich darauf, dass sich das Knäuel widersprüchlicher Gedanken in ihrem Kopf wieder entwirrte.
Sie war immer noch hellwach, als sich der Wohnungsschlüssel drehte und Michel auf leisen Sohlen hereinkam. Sie hätte heulen mögen vor Freude über sein unerwartetes Auftauchen. Klopfenden Herzens sprang sie aus dem Bett und warf sich ihm an den Hals. »Gott sei Dank, dich schickt der Himmel, Michel!«
»Das bezweifle ich«, lachte er. »Aber du wolltest unbedingt mit mir reden. Da dachte ich ...«
Sie unterbrach ihn mit einem ungestümen Kuss und murmelte: »Nimm mich einfach in den Arm. Wir reden später.«
Hôpital Pitié-Salpêtrière, Paris
Bisher war Leo nie aufgefallen, dass der ›Parisien‹ so beliebt war auf ihrer Abteilung. Kaum ein Pult, auf dem die skandalöse gestrige Ausgabe mit ihrem Konterfei fehlte. Während Edmond, ihr Assistent, der selbst nichts anbrennen ließ, sich über das Bild freute, »Ein schönes Paar«, kommentierte er voll
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