Natürliche Selektion (German Edition)
überzeugt, dass Renés Tod nichts mit Lorenzo oder diesen Organismen hier zu tun hat.«
»Ich weiß nicht«, grübelte Michel. »Manchmal denke ich, es lastet eine Art Fluch auf unserer Gruppe. Zwei von fünf hat es kurz nacheinander erwischt.«
Damien warf ihm einen tadelnden Blick zu. »Das denkst du nicht wirklich!«, wies er ihn unerwartet forsch zurecht, als wäre er ein Kind, dem gerade etwas sehr Ungehöriges herausgerutscht war.
Bevor er antworten konnte, begann sein Telefon zu klingeln. ›Alain‹ las er auf dem Display. Er zögerte, doch dann drückte er die Empfangstaste. »Alain, jetzt geht es nicht. Ich bin in einer Besprechung. Wenn du dich bei mir entschuldigen willst, kannst du es später tun.« Er war immer noch sauer auf den unverfrorenen Reporter mit seinen pietätlosen Artikeln, und er ließ es ihn bei jeder Gelegenheit spüren.
»Spar dir deinen Zynismus und hör zu«, entgegnete Alain. Er klang gehetzt, aber das gehörte zu seinem Berufsbild. »Dauert nur eine Sekunde.« Michel hörte sich an, was er zu erzählen hatte. Als er das Telefon wieder zuklappte, war sein Gesicht blass, und er hatte einen Kloß im Hals.
»Schlechte Nachrichten?«, fragte Damien vorsichtig.
Michel nickte nachdenklich und erhob sich. »Ich muss gehen«, antwortete er heiser. »Bei René hat man die gleichen Schleimviecher gefunden.« Er gab seinem Mentor die Hand, ohne dessen verdrossenes Gesicht zu bemerken. Er stand schon auf der Place Jussieu, als ihm mit einem Schlag klar wurde, was an Damiens Fotos nicht stimmte: der Maßstab. Auf einem der Bilder war die Größe des Wesens mit etwa einem Millimeter angegeben. Die Pseudoschnecke, die er in der Pathologie gesehen hatte aber war mindestens zwanzigmal so lang. Die vergessene Probe in seinem Kühlschrank musste dringender denn je von einem Spezialisten untersucht werden.
Butte Aux Cailles, Paris
Leo warf die Zeitung im Vorbeigehen auf den Couchtisch. Sie hatte den ›Parisien‹ nur wegen der Schlagzeile gekauft:
Wieder mysteriöser Selbstmord eines jungen Wissenschaftlers!
Mit Ausrufezeichen. Sie brauchte zuerst einen ›Petit Noir‹. In der Küche schaltete sie die Espressomaschine ein, schnitt zwei Scheiben vom frischen Baguette und bestrich sie dick mit Butter. Die physiologisch höchst fragwürdige Kombination genügte ihr als Abendessen, wenn Michel nicht im Haus war. Genussvoll kauend öffnete sie die Terrassentür, bevor sie sich setzte. Draußen war es noch hell. Spatzen stritten um den besten Schlafplatz, und der süße Duft des Frühlings wehte ins Zimmer.
Im Grunde wollte sie den Artikel über den Tod von Michels Freund nicht lesen, aber ihr Liebster verhielt sich so wortkarg bei dieser Geschichte, dass sie sich die Information eben auf andere Art besorgen musste. Gelangweilt überflog sie die ersten Abschnitte, die keine Neuigkeiten enthielten. Der Schreiber versuchte lediglich, den Verlauf des Suizids möglichst dramatisch zu schildern, als hätte er den bedauernswerten René auf seinem letzten Gang begleitet. Am Ende der Spalte auf der Frontseite aber traute sie ihren Augen nicht mehr. Mit Entsetzen las sie, dass auch dieser junge Mann vom gleichen unbekannten Wesen befallen war wie seinerzeit Lorenzo Ricci. Ein schreckliches Déjà-vu tauchte vor ihrem geistigen Auge auf. Sie sah schon wieder die aufdringlichen Pressefritzen ihren Michel bis vor den OP verfolgen. »Jetzt geht das wieder los«, seufzte sie laut. Sie holte sich einen zweiten Kaffee, bevor sie umblätterte. Der Artikel stellte prompt den Bezug zur unsäglichen Alienjagd im Herbst und Winter des Vorjahres her. Ein Foto der fünf Männer vor dem alten Bauernhaus trug den reißerischen Kommentar:
Welcher Fluch lastet auf diesen Männern? Zwei dieser fünf Freunde haben sich in den letzten sechs Monaten das Leben genommen. Wer ist der Nächste?
Es folgten reich bebilderte Nachrufe auf die beiden Unglücklichen, dann Kurzporträts der drei ›Überlebenden‹, den Schreiber eingeschlossen. Sie kannte die Namen, sah jedoch die Gesichter von Michels Freunden zum ersten Mal, außer dasjenige des rasenden Reporters Alain. Das, wie es schien, verärgerte Gesicht ihres Liebsten blickte ihr von der letzten Grossaufnahme entgegen, neben dem deutlich erkennbaren Brustbild seiner ›attraktiven Begleiterin‹, ihrem Bild. Vor Schreck verschluckte sie sich, hustete und spie einen Teil des Kaffees über die Zeitung aus. »Dieser heimtückische Spitzbube!«, rief sie zornig
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