Natürliche Selektion (German Edition)
ehrlicher Bewunderung, fiel die gute Charlotte aus allen Wolken. Sie und Michel hatten die Beziehung bisher unter Verschluss gehalten, mit dem Erfolg, dass Charlotte und ihre Freundinnen ihrem Geliebten weiterhin ungeniert den Hof machten. Damit war nun wohl Schluss. Sie vermutete, dass die jungen Frauen in Zukunft nicht mehr so oft im Babinski anzutreffen wären. Ihr überkorrekter Stellvertreter Muehlberg, Intimus und Intimfeind in einem, reagierte wie erwartet auf seine explizit diskrete Weise. Er sorgte dafür, dass sie ihn bei der Lektüre des Artikels überraschte, knüllte dann die Zeitung zusammen, warf sie mit deutlichem Abscheu in den Mülleimer und sagte demonstrativ nichts.
Die professionelle Routine der Visite und Sitzungen machte die peinliche Geschichte zum Glück schnell vergessen. Ihr Ärger verrauchte angesichts der schwerwiegenden Probleme, mit denen die meisten ihrer Patienten zu kämpfen hatten. Manchmal hatte sie das Gefühl, auf einem schmalen Grat dauernd am Abgrund zu lavieren. Verschrieb sie das richtige Antidepressivum? Wie reagierte der Patient auf die Medikamente? Immer wieder kam es vor, dass sich trotz korrekter Anwendung der Therapie plötzlich Angstzustände, Reizbarkeit, Schlaflosigkeit oder psychomotorische Störungen einstellten oder verstärkten. Fuhr sie die Dosierung vorsichtig zurück oder wechselte das Präparat, bestand die Gefahr, dass die Wirkung verpuffte. Sie hielt sich grundsätzlich eher zurück bei der Medikation, vertraute auf Gespräche, die Beobachtung und Veränderung der Lebensumstände der Betroffenen. Das musste sie regelmäßig ihren Yuppie-Patienten erklären, die sie offenbar in der Absicht aufsuchten, sich Modedrogen für ihre Hirnkosmetik zu beschaffen. Aber oft ging es eben nicht ohne Chemie und erneute Gratwanderung.
»Dr. Fournier ist jetzt da«, meldete ihre Sprechstundenhilfe über die Gegensprechanlage. Bei der Anmeldung war ihr der Name nicht aufgefallen. Ein weiterer Yuppie? , hatte sie sich nur gefragt. Erst bei der Zeitungslektüre am Vorabend fiel es ihr wie Schuppen von den Augen. Patrick Fournier, so hieß einer von Michels Freunden, einer der drei ›Überlebenden‹. Zufall? Sie blickte dieser Konsultation mit mehr als der üblichen beruflichen Neugier entgegen.
Der ernste junge Mann zögerte nur kurz, als sie sich begrüßten, dann stellte er unumwunden fest: »Sie kennen Michel Simon, Doktor. Er ist mein Freund und darf nichts von meinem Besuch hier erfahren. Auch sonst niemand. Ist das ein Problem?«
Sie unterdrückte einen Stoßseufzer. Gab es niemanden, der diesen unseligen Artikel nicht gelesen hatte? Sie nahm nicht an, dass Michel ihm von ihrer Beziehung erzählt hatte. Sie zwang sich zu einem unverbindlichen Lächeln und antwortete: »Sie können sich selbstverständlich auf meine Diskretion verlassen. Ich halte mich an die ärztliche Schweigepflicht.«
»Gut, danke. Wenn auch nur der Hauch eines Verdachts bekannt würde, dass ich psychische Probleme habe, wäre ich Job und Karriere los.«
Der Mann hatte Angst. Sie lenkte das Gespräch erst auf unverfängliche Themen, um seine Anspannung zu lösen. Eine Weile unterhielten sie sich über seine Arbeit, bevor sie sich vorsichtig dem Grund seines Besuchs näherte. »Bei Ihrer Arbeit als Chefinspektor können Sie sich keine Unsicherheit leisten«, stellte sie sachlich fest.
»Deshalb brauche ich Ihren Rat, Doktor.« Er zögerte. Die richtigen Worte zu finden bereitete ihm offensichtlich Mühe. Unsicherheit, das Gefühl, nicht mehr ganz Herr seiner Lage zu sein, waren wohl vollkommen neue Erfahrungen für den vom Erfolg verwöhnten jungen Mann. »Ich habe die Symptome bis vor kurzem nicht ernst genommen, aber jetzt bin ich nicht mehr so sicher.«
»Was haben Sie denn beobachtet?«
»Zuerst waren es nur die Träume. Ich kann mich zwar an nichts erinnern, aber ich erwache häufig nachts, manchmal schweißgebadet.« Wieder stockte seine Rede.
»Sie können sich nicht an die Träume erinnern, aber vielleicht an ein Motiv, das immer wieder auftauchte?«
Er schüttelte den Kopf. »Nein, nur an den unruhigen Schlaf. Vielleicht ist das auch der Grund meiner Konzentrationsstörungen. Vielleicht ist alles nur auf ein körperliches Problem zurückzuführen.«
»Vielleicht. Haben Sie Schmerzen?«
»Nein, ich fühle mich gesund, das ist ja das Erstaunliche. Trotzdem bin ich immer öfter müde und niedergeschlagen. Sie müssen wissen, dass so etwas völlig neu für mich ist.«
»Verstehe.
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