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Natürliche Selektion (German Edition)

Natürliche Selektion (German Edition)

Titel: Natürliche Selektion (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: H. J. Anderegg
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in der Rechten, am Fenster und starrte in die Dunkelheit.
    »Ich habe ihn wieder gesehen«, murmelte er, wie zu sich selbst. »Er schlich ums Haus und verschwand dann über die Terrasse.«
    Chantal schüttelte ärgerlich den Kopf. »Das war sicher wieder nur ein Ast, der sich im Wind bewegte. Ich glaube allmählich, du siehst Gespenster. Wir haben jedenfalls nur dich auf der Terrasse bemerkt, oder, Leo?«
    Sie zuckte hilflos die Achseln. Im Grunde genommen hatte sie zu lange gar nichts gesehen. Was war mit Michel los? Er schwieg mit versteinerter Miene. Die aufgeräumte Stimmung war verflogen. Die Häppchen blieben auf den Tellern, nur der Wein floss weiter.
    Chantal erhob sich und begann abzuräumen. »Jetzt macht euch mal keinen Kopf, Leute. Es ist schließlich nichts passiert«, versuchte sie ihre Gäste aufzumuntern. Leo sammelte das übrige Geschirr ein und folgte ihr in die Küche. Eine wichtige Frage brannte ihr auf der Zunge.
    »Das war nicht das erste Mal, nicht wahr?«, bemerkte sie beiläufig, während sie die Teller in den Geschirrspüler steckte.
    Chantal hielt inne mit dem Verpacken der Speisereste. »Wir sollten die Büsche ums Haus schneiden lassen. Ich glaube, sie ängstigen ihn. Patrick ist sehr sensibel, auch wenn er den harten Kerl spielt.«
    Nicht die Antwort auf ihre Frage, aber sie schloss daraus, dass die beiden ihre Umgebung nicht zum ersten Mal unterschiedlich wahrnahmen. Sie wagte noch eine zweite Frage: »Wenn da jemand war, warum ist der Alarm nicht früher losgegangen?«
    »Eben!«, rief Chantal und machte eine unwirsche Handbewegung, als wollte sie den Zwischenfall vom Tisch wischen. »Es ist völlig ausgeschlossen, dass sich jemand unentdeckt ans Haus schleicht. Die Anlage hat bei Patrick auch sofort reagiert.«
    So sehr sie Chantals Vertrauen in die Elektronik beruhigte, so tief bedrückte sie die Sorge um ihren Patienten. Sie fürchtete, die Erklärung mit dem bewegten Geäst wäre zu einfach.
    Michel verhielt sich für den Rest des Abends ungewohnt einsilbig. Sie lagen schon im Bett, als er endlich den Mund aufmachte. »Schläfst du schon?«, flüsterte er.
    »Jetzt nicht mehr.«
    »Patrick hatte recht.«
    »Wovon sprichst du?«
    »Da war einer am Haus. Ich habe ihn auch gesehen.«
    Wie von der Tarantel gestochen schnellte sie hoch und starrte ihn zu Tode erschrocken an. »Was redest du da!«, entfuhr es ihr. An Schlaf war endgültig nicht mehr zu denken.
Moyenne Corniche, Côte d’Azur
    Michel bereute am nächsten Morgen, ihr von seiner Beobachtung erzählt zu haben. Leo wälzte sich daraufhin die halbe Nacht schlaflos im Bett. Erst als er sich beim ersten Tageslicht aus dem Zimmer stahl, schlief sie tief und fest. Auch nach seinem Bad im eiskalten Pool lag sie leise schnarchend im Bett, bemerkte nicht, wie er sich anzog, hörte kein Geklapper der Tassen und Teller, roch den belebenden Duft des schwarzen Kaffees nicht, der vom Frühstückstisch auf der Sonnenterrasse zu ihren Fenstern aufstieg. Erst gegen Mittag stand sie plötzlich wie eine taufrische Rose neben ihm, das Haar noch in feuchten Strähnen, den schlanken Körper kaum verhüllt von einem frech geschlitzten Sommerkleidchen.
    »Mir gefällt’s hier«, schwärmte sie, legte den Arm um seine Taille und küsste ihn auf die Wange, als gäbe es keine offenen Fragen zum Vorabend mehr. »Müssen wir wirklich heute schon weiter?«
    Er nickte bedauernd. »Leider. Wir sollten spätestens am Dienstag Morgen in Venedig sein, wie du weißt.« Der Wissenschaftler, dem er die Probe aus seinem Kühlschrank in letzter Minute doch noch geschickt hatte, war nur an diesem Tag am Biologenkongress zu treffen. Ein Termin, den er unter keinen Umständen verpassen durfte. »Und Patrick fliegt heute nach Paris zurück.«
    »Paris – kommt mir vor, als seien wir schon eine Ewigkeit weg.«
    »Geht mir genauso, und ich sehne mich noch keineswegs zurück.« Hartnäckig wie er sein konnte, stellte er die Frage nochmals, die sie schon bei der Planung der Reise beantwortet hatte: »Du willst also nicht über die Grande Corniche?« Die höchstgelegene und schönste Klippenstrasse von Nizza zur italienischen Grenze hatte er nicht so sehr wegen des grandiosen Panoramas vorgeschlagen, sondern weil sie starke nostalgische Gefühle in ihm weckte. Sie erinnerte ihn an Filme seiner Jugend, vor allem aber an die verrückte Tour rund um sein Land, die er zusammen mit Lorenzo unternommen hatte, kaum besaßen sie den Führerschein. Sie kauften sich für sehr

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