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Natürliche Selektion (German Edition)

Natürliche Selektion (German Edition)

Titel: Natürliche Selektion (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: H. J. Anderegg
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mitten im Grün des bewaldeten Hangs über dem Strand von Ventimiglia. Blühende Gräser streuten ihre Pollen in den Wind. Sie spürte einen starken Niesreiz, zog ein Taschentuch aus ihrer Handtasche, hielt es schützend vor Nase und Mund, als ihr der fremde und doch so bekannte Geruch auffiel. Sie hatte es nicht bemerkt, wohl aber Michel. Er beugte sich blitzschnell hinunter und las das rosa Kärtchen vom Boden auf, das sie mit dem Tuch aus der Tasche gezogen hatte. Er betrachtete es genüsslich, roch daran und sagte:
    »Deine Freundin riecht gut.«
    Sie versuchte vergeblich, ihm die Karte wegzunehmen. »Gib her, das geht dich nichts an!«
    »Und ob mich das was angeht, wenn meine Freundin fremdgeht.« Er las vor, was auf dem niedlichen Visitenkärtchen stand: »Manon – und eine Telefonnummer, in kunstvoll güldenen Lettern. Wie romantisch.«
    Sie errötete, als hätte sie tatsächlich ein Verhältnis mit dieser anhänglichen Dame. »Du bist gemein. Sie hat mir die Karte heimlich in die Tasche geschmuggelt.«
    »Geil«, grinste er und gab ihr das duftende Souvenir.
    Sie betrachtete die Telefonnummer scheinbar nachdenklich, dann sagte sie lachend: »Weißt du was? Vielleicht sollte ich sie doch anrufen.«
Centre Pompidou, Paris
    Am Stahlgerüst über dem Eingang des Centre Pompidou hing das riesige Plakat der neuen Fotoausstellung. Damien Fabre, der aus dem akademischen und kulturellen Paris nicht wegzudenkende, allseits geachtete und gefürchtete Professor der UPMC, hatte Himmel und Hölle in Bewegung gesetzt, um diese Ausstellung zu organisieren. Gerade jetzt, da die Spekulationen um die sogenannt mysteriösen Suizide junger Wissenschaftler einmal mehr zu überborden drohten, hielt er es für unausweichlich, kräftig Gegensteuer zu geben mit dem ganzen Gewicht seines Namens. Es war ihm gelungen, den Fotokünstler der Stunde für das Projekt zu begeistern.
     
    Paul Robert – Nicht von dieser Welt
    Eumycetozoa – Leben wie von einem andern Stern
     
    stand auf dem Plakat. Die Eröffnung einer Ausstellung im Centre zog das Publikum jedes Mal in Massen an, und so war es auch diesmal. Der Fotograf, dessen fast surrealistische Architekturbilder höchste Preise erzielten, präsentierte das mysteriöse Leben der Schleimpilze als überwältigende Orgie von Farben und Formen. Die lebendige Architektur der Natur in berauschenden und verstörenden Makroaufnahmen. Strenge geometrische Formen in leuchtendem Grün, Gelb und Rot wie Städte von einem fremden Planeten. Violette Zeltlager in einer Landschaft aus totem Holz auf andern Fotos. Seltsame goldene Baumhütten neben Nacktschnecken ohne Augen, die man sich höchstens als Bewohner unerforschter Meerestiefen vorstellte.
    Damien benutzte die Laudatio auf den Künstler für sein wichtigstes Anliegen. Das große Publikum sollte erfahren, wer die seltsamen Wesen waren, die man auf den Leichen der Selbstmörder entdeckt hatte. Keine außerirdische Pest, nur ungewöhnliche, aber durchaus verbreitete, Erdenbewohner. »Das Erstaunlichste aber, Mesdames et Messieurs, ist die Tatsache, dass es sich bei dieser wahrhaft außerirdischen Stadt, der unheimlichen Schnecke und den Zelten um ein und dasselbe Lebewesen handelt. Die ungefähr tausend Arten von Eumycetozoa, oder Myxomyceten, unterscheiden sich nicht nur untereinander wie kaum eine andere Gruppe, jedes einzelne Individuum durchläuft auch drei morphologisch äußerst unterschiedliche Hauptstadien in seiner Entwicklung. Ich bitte Sie, die wissenschaftlichen Kommentare bei den Bildern zu beachten. Sie sind mindestens so erhellend, wie die Angaben des Künstlers – verzeih mir, Robert.«
    Verhaltenes Gelächter war die Antwort. Er durfte die Leute nicht mit Details über das packende Leben dieser Wesen langweilen, die man zwar zur Botanik zählte, die aber weder Pflanzen, noch Pilze, noch Tiere waren, sondern alles zusammen. Wenn das Publikum seinem Rat folgte, würde es erfahren, dass die Zelle eines Schleimpilzes in kürzester Zeit enorm wachsen konnte. Nicht durch Zellteilung, sondern durch Vervielfachung des Zellkerns. Eine einzelne Zelle konnte leicht bis zu einem Quadratmeter groß werden. Und die Leute würden lernen, dass das erstaunliche Wesen nicht überall so unbekannt war wie in Frankreich. In Mexiko aß man gewisse Arten gegrillt als Delikatesse ›caca de luna‹.
    »Ich denke, Sie haben Ihren Punkt gemacht, Professor«, bemerkte eine ältere Frau mit streng nach hinten gekämmtem Haar und dicken Brillengläsern

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