Natürliche Selektion (German Edition)
mir.«
Lombardi warf ihm einen ernsten Blick zu. »Exotisch ist eine schamlose Untertreibung, mein Lieber«, antwortete er kopfschüttelnd.
»Wie muss ich das verstehen?«, fragte Michel verwundert. »Ich habe eben erfahren, dass sich die Aufregung in Paris allmählich wieder legt, nachdem Damien das Volk über Eumycetozoa aufgeklärt hat.«
Roberto schnaubte verächtlich. »Eumycetozoa! Das sieht ihm ähnlich, unserem Alten. Hält sich für einen Universalwissenschaftler, aber er sollte diese Arbeit den Spezialisten überlassen. Du glaubst doch nicht auch, dass das Schleimpilze sind?«
Zweifel hatte er genug, aber die Reaktion seines Bekannten überraschte ihn doch. »Ich weiß nicht«, sagte er unsicher.
Wieder schüttelte Roberto den Kopf, diesmal heftiger. Er schaute dabei Leo an, als müsste sie ihm helfen, ihren Freund zu überzeugen. »Morphologie und Verhalten weisen zwar vordergründig große Ähnlichkeit mit der Gruppe der Eumycetozoa auf, aber hinter der Zellmembran endet die Übereinstimmung.« Er legte eine Pause ein, bevor er weitersprach. Seinem Gesicht nach zu schließen, konnte er selbst nicht fassen, was er entdeckt hatte.
»Mach’s nicht so spannend, Roberto!«
»Habt ihr schon vom Mono Lake gehört?«
Ratloses Achselzucken.
»Der Mono Lake ist ein mittelgroßer See östlich des Yosemite Nationalparks in Kalifornien. Es ist ein Loch ohne Abfluss. Er interessiert die Wissenschaft deshalb, weil sich in ihm über Jahrtausende eine sehr hohe, natürliche Arsenkonzentration gebildet hat. Man sucht dort nach Mikroben, deren biologischer Bauplan grundsätzlich anders sein muss, als alles, was wir sonst auf der Erde kennen, wenn sie unter jenen Bedingungen leben können.«
Ein kalter Schauer lief Michel über den Rücken. Er ahnte, worauf Roberto hinaus wollte. »Und?«, fragte er zögernd, »hat man sie gefunden?«
»Noch nicht, aber der Punkt ist: falls man sie findet, sind sie der Beweis, dass auf der Erde eine Schattenbiosphäre existiert.«
Zum ersten Mal brach Leo ihr Schweigen: »Schatten – was? Was ist das?«
Der Biologe lächelte ihr freundlich zu und bestätigte, was Michel bereits vermutete: »Als Schattenbiosphäre bezeichnen wir, ein wenig verwirrend, muss ich zugeben, radikal andersartige Lebensformen, die sich sozusagen im Schatten der bekannten Biosphäre, im Schatten unserer erforschten Welt des Lebendigen, entwickelt haben.«
»Eine zweite Genesis«, murmelte Michel leise.
»Ganz genau. Es gab schon lange Spekulationen, wie eine solche zweite Evolution hätte ablaufen können. Eine These beruht auf der Annahme, dass sich Leben zuerst auf der Basis einfacher RNA-Moleküle entwickelt hat, dass sich die komplexere DNA-Struktur, aus der alles bekannte Leben entstanden ist, erst später ausgebildet hat. Forscher wie Benner oder Carrigan schließen nicht aus, dass Lebewesen auf RNA-Basis heute noch im Verborgenen existieren.«
Leo schüttelte ungläubig den Kopf. »Also doch Außerirdische«, spottete sie.
»Das nicht, Signora«, schmunzelte Roberto. »Ich spreche hier von einer zweiten Evolution auf der Erde, die wir bisher einfach nicht bemerkt haben, weil wir nicht danach gesucht haben.«
»Aber – was haben diese Spekulationen mit meiner Probe zu tun?«, fragte Michel ungeduldig, obwohl er sich die Antwort vorstellen konnte.
»Deine Probe, mein Lieber – deine Probe ist ein solches RNA-Lebewesen.«
Die Bombe hatte offensichtlich auch bei Leo eingeschlagen. Lange sagte niemand ein Wort, bis Michel schließlich den Mund öffnete. Tausend Fragen brannten ihm auf der Zunge. Aber Roberto kam ihm zuvor.
»Bevor du mich mit deinen Fragen löcherst, solltest du wissen, dass ich zurzeit noch genauso ratlos bin wie ihr. Ich muss gestehen, dass ich nicht die geringste Ahnung habe, wie und wo so etwas entstehen konnte, noch warum es plötzlich so spektakulär auftaucht, noch wie es auf normale Lebewesen wirkt. Ich weiß nur, dass es nicht im üblichen Sinn toxisch ist, und vor allem weiß ich, dass so etwas noch niemals auf unserer schönen Welt beobachtet worden ist. Wir werden das Wesen weiter untersuchen, denn ich glaube, dass wir einem der größten Geheimnisse auf der Spur sind, die uns Biologen seit jeher beschäftigen.«
Butte Aux Cailles, Paris
Der Alltag hatte Leo wieder eingeholt. Seit sie wieder in Paris ihrer gewohnten Arbeit nachging, dachte sie kaum mehr an die kalte Dusche, die ihnen dieser Dottore auf dem Lido von Venedig verpasst hatte. Die schönen
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