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Natürliche Selektion (German Edition)

Natürliche Selektion (German Edition)

Titel: Natürliche Selektion (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: H. J. Anderegg
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Erinnerungen an ihre kleine Flucht in den Süden waren stärker. An diesem Abend aber kehrten die verdrängten Gedanken an das Unheimliche, das die Gehirne zweier Menschen befallen hatte, mit einem Schlag zurück. Paradox, aber unausweichlich, dass es ausgerechnet auf der fröhlichen Party geschah, mit der sie das Ende des Alien-Rummels, das verschämte Schweigen der Boulevardblätter feierten. Keine Disco-Fete war es, mit stampfendem Lärm und ausgelassenem Tanz. Sie und Michel hatten ein paar gute Freunde, darunter natürlich den alten Professor, zu einer jener ›stillen‹ Parties in ihre Wohnung geladen. Umso intensiver und hitziger entwickelte sich die Diskussion. Sie hatte mit Michel vereinbart, nichts über die Entdeckung des Biologen zu sagen, denn die Folgen einer solchen Offenbarung wären unabsehbar. Schließlich ging es um die Zähmung des Boulevards, und das war Damien gelungen. Als Held des Abends kam er schnell in Fahrt. Von den Schleimpilzen schlug er den Bogen über die gelungene Ausstellung bis zur mangelnden Ästhetik in der modernen bildenden Kunst.
    »Symmetrie«, betonte er. »Die Symmetrie fehlt vielen neuen Werken. Oder die Jungen verstehen sie falsch.«
    »Konsequenterweise müssten Sie also die monochrome Malerei eines Yves Klein bevorzugen?«, fragte Leo spöttisch. »Sein blaues Rechteck ist fast perfekt symmetrisch. Ich finde es bloß langweilig.«
    »Ein kräftiges Blau, mit dem man durchaus dekorative Akzente setzen kann, Madame. Aber das ist genau, was ich unter falsch verstandener Symmetrie verstehe. Ich rede nicht von der strengen, geometrischen Symmetrie. Was ich meine, ist die Ausgewogenheit von Form und Farbe, innerer und äußerer Logik der Komposition. Ein Bild ist doch ein in sich geschlossenes Ganzes, sonst wirkt es wie eine langweilige Melodie ohne Kontrapunkt.«
    Sie befand sich auf dünnem Eis. Malerei war nicht ihre Stärke, Musik schon eher. Aber sie überließ das Feld dem Professor und den anderen Männern, freute sich am lebhaften Schlagabtausch und betete insgeheim, dass das Gespräch nicht wieder auf die unsäglichen Schleimpilze zurückfiele.
    »Ist doch ganz gut gelaufen«, sagte Michel erleichtert, als die Gäste die Wohnung verlassen hatten.
    Dem stimmte sie gerne zu. »War ganz unterhaltsam«, lächelte sie. »Dein Damien scheint wirklich mit allen Wassern gewaschen zu sein.«
    »Ist er, aber ...«
    Es klingelte. Verwundert ging sie zur Tür und spähte durch das Guckloch. Das Gesicht kannte sie, obwohl sie dem Mann draußen erst einmal kurz begegnet war, und der Anblick versetzte ihr einen Stich ins Herz. »Dein Journalist«, flüsterte sie. »Wimmle du ihn ab.« Sie verspürte nicht die geringste Lust, sich mit dem Reporter zu unterhalten, den sie eben im Geiste begraben hatten. Michel trat vor die Tür und zog sie bis auf einen schmalen Spalt hinter sich zu, damit sie mithören konnte.
    »Alain, was willst du hier?«
    Alain Chevalier schien außer Atem zu sein. Seine Stimme klang äußerst aufgeregt. »Michel, ich habe eine Scheißangst! Schon wieder hat sich ein Kommilitone umgebracht. Ich habe es soeben erfahren. Pierre Morel, du erinnerst dich. Er hat sich erschossen. Und wieder hat man bei seiner Leiche diese verdammten Viecher gefunden. Ich sage dir, die sind auch in uns drin!«

KAPITEL 5
     
Place Du Colonel Bourgoin, Paris
    P atrick schaute sich nervös nach allen Seiten um, bevor er eilig den Platz vor der Gare de Lyon überquerte. Er war sich nicht sicher. Auf der Fahrt hierher hatte ihn das Gefühl nicht losgelassen, beobachtet zu werden. Normalerweise gab er nichts zu verbergen, aber an diesem Morgen befand sich ein Dossier in seiner Aktentasche, an dem so ziemlich alle Kernkraftbetreiber des Landes brennend interessiert sein dürften: ein fünfseitiges Papier mit den letzten Ergänzungen zur Inspektionsplanung für die zweite Jahreshälfte. Wenn dieses Dokument Unbefugten in die Hände fiele, könnten er und seine Leute mit der ganzen Arbeit von vorn beginnen, und ein paar große Firmen hätten alle Zeit der Welt, ihre Schlampereien zu vertuschen.
    Im Gewühl der Pendler müssten sie ihn verlieren, falls er wirklich verfolgt wurde, doch das unangenehme Gefühl beschlich ihn erneut, als er im Taxi saß. War es Zufall, dass ein zweites Taxi den Bahnhof zur gleichen Zeit verließ, die ganze Strecke auf dem Boulevard Diderot hinter ihnen herfuhr und wie sie bei seiner Sushi-Bar in die Rue Crozatier einbog? Sie hielten vor der Brasserie neben dem

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