Natürliche Selektion (German Edition)
Feld schob. Sie platzierte zwei ihrer Jetons nebenan auf Rouge.
Der Croupier setzte die Scheibe in Bewegung und warf die Kugel ein. »Rien ne va plus.«
Die Makellose beugte sich zu ihr herüber und flüsterte ganz nah an ihrem Ohr: »Sie setzen auf Ihre Farbe, das mache ich auch oft, obwohl es mir kaum Glück bringt. Aber es hat Stil.«
Flirtete die Frau mit ihr? Die Kugel, hüpfte zwei, drei Positionen weiter, rollte aus und blieb schließlich auf der grünen Null liegen. Während sie verblüfft zusah, wie elegant der Croupier ihren halben Einsatz zu ihrem bescheidenen Häufchen Jetons zurückschaufelte, spürte sie die Hand ihrer Nachbarin auf ihrem Arm.
»Nicht alles verloren. Ich versuch’s gleich nochmals«, lachte sie und setzte ihre ganzen Chips wieder auf Noir.
Leo lächelte freundlich zurück und schob die Hand sachte, aber bestimmt, von ihrem Arm weg. Mit der Bemerkung: »Verzeihen Sie, wenn ich Sie wieder kopiere«, schob sie ihren kleinen Vorrat auf Rouge. Spätestens jetzt beantwortete sich die Frage, die sie sich im Stillen gestellt hatte, von selbst und in aller Deutlichkeit. Sie hätte die Hand der Schönen nicht berühren dürfen, denn von nun an rückte sie unmerklich näher heran. Ihr zweifellos teures Parfüm duftete intensiver. Leo fragte sich, ob andere Spieler oder die Angestellten etwas von den subtilen Annäherungsversuchen bemerkten, konnte jedoch keine Reaktion feststellen. Dem einen oder andern der Croupiers und Chefs de Table mochte wohl nicht entgangen sein, was sich an ihrem Tisch abspielte, aber sie ignorierten das Balzen der Dame mit professioneller Gleichgültigkeit. Kein Wort würde Michel ihr von dieser Geschichte glauben.
Ein wenig schmeichelte ihr die unerwartete Zuneigung dieser Dame schon, da machte sie sich nichts vor, aber sie sollte sich keine falschen Hoffnungen machen. Andererseits wollte sie die Gute nicht mit einem klaren Wort öffentlich bloßstellen. So wartete sie ungeduldig auf das Ausrollen der Kugel. Rot 23! Bevor ihre Verehrerin ihr handgreiflich gratulieren konnte, sprang sie auf, raffte das etwas größere Häufchen Chips zusammen, das der Croupier ihr zuschob, und verabschiedete sich mit freundlichem Nicken vom heißen Tisch.
Sie erspähte Michel an einem der Blackjack-Tische. Ohne sich nach der schwarz-weißen Schönheit umzusehen, eilte sie zu ihm. »Michel, du wirst es nicht glauben«, platzte sie atemlos heraus. Er reagierte nicht, als hätte er sie nicht bemerkt. Stattdessen blickte er konzentriert auf die Spielkarten, die offen vor den vier Spielern auf dem Tisch lagen. Nach kurzem Zögern nickte er der Geberin zu. Eine dritte Karte gesellte sich zu seinem Blatt. Als Letzte zog die Geberin eine Karte für sich. Dann ging alles sehr schnell. In einem einzigen eleganten Schwenk wischte die Angestellte die Karten vom Tisch und schob gleichzeitig die Chips der Verlierer an Michels Platz.
»Wir machen uns besser aus dem Staub«, flüsterte er ihr rasch ins Ohr, nahm seine Chips und ging ihr voran zu den Kassen. »Die sehen es nicht gern, wenn einer zu oft gewinnt«, erklärte er auf dem Weg.
»Du hast sie ausgetrickst?«
Er lachte. »Nein, das geht nicht beim Blackjack, aber mit einem guten Gedächtnis kann man dem Glück etwas nachhelfen. Kartenzählen nennt man das, obwohl es bei mir mit Zählen nicht allzu viel zu tun hat. Ich merke mir einfach alle Karten, die ausgespielt sind. Das hilft bei der Entscheidung, ob ich noch eine Karte nehme. Als du gekommen bist, hatte ich zum Beispiel eine Sechs und eine Dame, die zusammen den Wert sechzehn ergeben ...«
»Vergiss es, das ist mir viel zu kompliziert.« Erstaunlich, er konnte sich offenbar alle gespielten Karten problemlos merken. »Du hast also tatsächlich ein fotografisches Gedächtnis?«
Er nickte. »Und es funktioniert immer noch. Ich könnte dir zum Beispiel deine neue hinreißende Freundin in jedem Detail beschreiben – äußerlich wenigstens.«
»Du hast uns also gesehen – Scheiße!«
»Was ist los?«
»Küss mich!« Sie schlang ihre Arme eng um ihn, schloss demonstrativ die Augen und presste die Lippen fest auf seinen Mund. Ohne den verblüfften Michel loszulassen, blinzelte sie in die Richtung, aus der sie weiße Mähne hatte kommen sehen. Sie ließ erst locker, als die Frau verschwunden war.
»Was war denn das?«
Sie antwortete nicht, drängte nur noch zum Aufbruch: »Lass uns verschwinden.«
Spät abends saßen sie draußen auf den Liegestühlen vor ihrer Klosterzelle,
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