Natürliche Selektion (German Edition)
sie meinte. »Doch«, gab er unumwunden zu. »Drei tote Kommilitonen, Freunde, und immer wieder diese unbegreifliche RNA-Lebensform. Was glaubst du, wie ich mir Sorgen mache.« Er war nahe daran, sich in die Röhre zu legen, sein Gehirn gründlich untersuchen zu lassen. War er auch infiziert? Und was würde das bedeuten? Seine Unsicherheit wurde von Tag zu Tag größer und unerträglicher, doch er wollte sie nicht noch mehr beunruhigen. »Mich wundert, was Patrick dazu sagt«, lenkte er ab.
»Frag ihn!«
»Keine Chance. Ich versuche ihn seit gestern zu erreichen, aber er meldet sich nicht. Ist wohl zu beschäftigt.«
»Nicht wie du«, lächelte sie, dann legte sie ihre Hand auf die seine und schaute ihm tief in die Augen. »Ich glaube es ist sehr wichtig, dass du mit ihm sprichst«, sagte sie ernst.
Er lachte bitter auf. »Weil wir die letzten zwei sind?«
Zu seiner Überraschung nickte sie und sagte nur: »Drei – ich dachte, ihr wart fünf.«
»Schon, aber Alain ist früh ausgestiegen aus dem bürgerlichen Hochschulbetrieb, wie er sich ausdrückte. Er hat einiges nicht mitbekommen und nicht mitgemacht, was wir anderen vier zusammen erlebt haben. Ich weiß nicht, ob er zum engen Kreis der Kandidaten gehört.« Todeskandidaten , dachte er bitter.
Sie musterte ihn eingehend, bevor sie die nächste Frage stellte: »Hast du Angst, es könnte auch in dir sein?«
»Ja«, antwortete er ohne Zögern. Er konnte ihr nichts vormachen. »Was immer es ist.«
»Du solltest dich scannen lassen.«
Er nickte nur. Einmal mehr versuchte er, mit seinem Handy Patrick zu erreichen, doch wieder meldete sich der Anrufbeantworter. »Merde, ich möchte schon wissen, was mit ihm los ist.«
»Versuch’s doch bei Chantal!«
An diese naheliegende Möglichkeit hatte er nicht gedacht, zu fixiert waren seine Gedanken auf Patrick und sich selbst. »Hast du die Nummer?«
Nach wenigen Summtönen hob Patricks Verlobte ab. »Michel, welche Überraschung. Was kann ich für dich tun?«
»Entschuldige, wenn ich dich überfalle, aber ich wollte eigentlich mit Patrick sprechen. Er nimmt nicht ab. Weißt du, wo ich ihn erreichen kann?«
»Das ist gerade ganz schlecht. Er wurde zu einem Notfall gerufen.«
Er musste lachen. »Notfall, sagtest du? Das tönt ganz nach einer meiner Ausreden.«
Das schien sie nicht sonderlich zu amüsieren. »Im Ernst. Ein Störfall oder so etwas. Er sagt mir nichts. Ich weiß auch nicht, wo er ist, aber er sollte eigentlich heute oder morgen wieder nach Hause kommen. In solchen Fällen funktioniert seine Kommunikation nur noch einseitig.«
»Begriffen. Sagst du ihm bitte, er soll mich anrufen, wenn er wieder auf diesen Planeten zurückkehrt?«
»Klar, kein Problem.«
Er wollte sich verabschieden, doch sie unterbrach ihn unerwartet:
»Michel – ich muss dich etwas fragen«, sagte sie zögernd, als fürchtete sie seine Antwort.
»Schieß los.«
Wieder zögerte sie. »Es ist – sehr persönlich.«
Er warf Leo, die ihn reglos beobachtete, einen verwunderten Blick zu. »Schieß los«, wiederholte er achselzuckend.
»Der Mann in unserem Garten neulich, erinnerst du dich?«
»Ja?« Er konnte sich schon vorstellen, worauf sie hinaus wollte.
»Hast du ihn auch gesehen?«
»Ich – denke schon.« Er stand auf, drehte sich zum Fenster, damit Leo die Unsicherheit, die Verwirrung in seinem Gesicht nicht sehen konnte.
Es war eine Weile still in der Leitung, dann sagte Chantal wie zu sich selbst: »Er sieht in letzter Zeit oft Dinge, Leute, die andere nicht sehen können. Michel, ich habe Angst.«
Ihre Worte trafen ihn wie lästige Mückenstiche, die man schnell vergessen will, die einem aber doch keine Ruhe lassen. Er war plötzlich nicht mehr so sicher, was er gesehen oder nicht gesehen hatte an jenem Abend, oder im Tunnel vor Lyon. Vor allem aber wusste er nicht, wie er auf ihr gänzlich unerwartetes Bekenntnis reagieren sollte. Zum Glück wartete sie nicht auf seine Antwort.
»Ist schon in Ordnung, ich sollte dich nicht damit belasten«, sagte sie. »Ich werd’s ihm ausrichten. Gruß an Leo.«
Er wagte Leo kaum in die Augen zu sehen, als er sich wieder setzte.
»Ist etwas nicht in Ordnung mit Patrick?«
Er schüttelte den Kopf. »Nein – alles O. K.« Es klang nicht überzeugend. Nichts war O. K. mit Patrick, fürchtete er, und mit ihm selbst.
Nuklearanlage Tricastin, Pierrelatte
Der Bauleiter verbarg seine Nervosität nur schlecht. Seine Befehle an die Untergebenen gerieten allzu zackig, während
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