Natürliche Selektion (German Edition)
eingetroffen. Lüwi meint, es sei äußerst wichtig für diese Sitzung.« Lüwi hieß eigentlich Louis und war sein Assistent aus dem Elsass. Wenn er etwas als wichtig beurteilte, dann war es wichtig. Er erhob sich, entschuldigte sich und verließ das Zimmer mit der Sekretärin. Draußen saß Lüwi sichtlich wie auf Nadeln. Ein dickes Kuvert lag vor ihm auf dem Glastischchen.
»Patrick, Gott sei Dank, dass ich dich noch vor Ende der Sitzung antreffe«, rief er erleichtert, sprang auf und gab ihm den Umschlag.
Bevor Patrick den Inhalt anschaute, suchte er den Absender, aber er fand keinen. »Anonym?«
Sein Assistent nickte. »Ja, aber der Inhalt ist hochbrisant und hundert Prozent glaubwürdig. Wir haben die Angaben mit unserem Archiv abgeglichen. Die Papiere stammen von einem Insider, der definitiv weiß, wovon er spricht.«
»Worum geht’s denn?«, fragte er und begann gleichzeitig, die Papiere aus dem Kuvert zu überfliegen. Für einen nüchternen Beobachter mochte es aussehen, als blätterte er einfach um, aber er erfasste den Inhalt einer Seite in Sekundenbruchteilen, ein Kunststück, das ihm bisher noch niemand nachgemacht hatte. »Vertrauliche Messprotokolle der Zulieferfirma«, murmelte er, während er las.
»Des neuen Anbieters von Eurodif, ganz richtig. Wie du siehst, werden die Dichtungen nach kurzer Zeit brüchig. Wenn die Messungen stimmen, und daran gibt es wohl keinen Zweifel, sind diese Teile unbrauchbar für Gaszentrifugen.«
Zu diesem Schluss kam er auch. Nachdenklich steckte er die Papiere in den Umschlag zurück. »Danke, Lüwi. Gut, dass du mich informiert hast.« Damit ließ er ihn stehen und kehrte ins Sitzungszimmer zurück. Das Gespräch verstummte. Die Kollegen warteten auf seine Erklärung. »Entschuldigen Sie die Unterbrechung, aber ich fürchte, ich habe schlechte Nachrichten«, begann er. »Wir haben eben Dokumente eines Insiders der neuen Zulieferfirma von Eurodif erhalten, die klar belegen, dass deren Dichtungen die Anforderungen für die Gaszentrifugen nicht erfüllen. Die Unterlagen bei der Offertstellung waren offensichtlich gefälscht. Ich muss Ihnen nicht erklären, was geschieht, wenn plötzlich Hex durch undichte Stellen in die Atmosphäre austritt.«
Jeder im Raum wusste, wovon er sprach. In den schnell rotierenden Zylindern der Zentrifugen sollte das schwach radioaktive Gas Uranhexafluorid, UF 6 oder kurz Hex, geschleudert werden. Die für Brennstäbe wichtigen Uran-235 Anteile sammeln sich dabei in der Mitte der Zylinder, entlang der Drehachse, während das schwerere Uran-238 an die Zylinderwand gedrängt wird. Das leicht mit U-235 angereicherte Hex wird aufgefangen und in den nächsten Zylinder geleitet. Am Ende dieser Kaskade erhielt man die für den Betrieb der Reaktoren in Tricastin notwendige Konzentration von 3.5% U-235. Wenn nun irgendwo in dieser komplizierten, technisch höchst anspruchsvollen Kette ein Leck auftrat, konnte Hex in die Luft und damit auch nach draußen in die Atmosphäre entweichen. Nicht nur die unkontrolliert frei werdende Radioaktivität war dabei das Problem, ebenso schwer wog die Tatsache, dass sich das Fluor im UF 6 mit der Luftfeuchtigkeit zur extrem aggressiven Flusssäure verband, die nicht nur Glas zerfraß sondern auch die Lungen der Menschen, die solche Dämpfe einatmeten.
»Was schlagen Sie vor?«, fragte der Direktor sichtlich betroffen von dieser Perspektive.
Patrick hatte sich längst entschieden. Er konnte und wollte die Planung nicht noch mal ändern, nachdem sie sich endlich über die Zuordnung der Ressourcen geeinigt hatten. So blieb ihm gar nichts anderes übrig, als die dringende Angelegenheit zur Chefsache zu machen. »Ich werde selbst hinfahren und erste Abklärungen vornehmen, bevor etwas durchsickert«, antwortete er. Niemand widersprach.
Hôpital Pitié-Salpêtrière, Paris
Die Cafeteria im Gebäude, wo er arbeitete, war für Michel nichts weiter als ein zweites Wohnzimmer. Hier hatte er sich zum ersten Mal mit Leo verabredet, und hier trafen sie sich tagsüber, wann immer es ihre vollen Terminpläne zuließen. Sie saß an ihrem Stammtisch am Fenster, als er eintrat, rührte gedankenverloren in ihrem schwarzen Kaffee, in dem es nichts zu rühren gab.
»Du wirst doch nicht plötzlich Zucker nötig haben?«, spottete er.
Sie legte den Löffel verlegen weg und beobachtete eine Weile schweigend das rotierende Schäumchen in ihrer Tasse. »Machst du dir keine Sorgen?«, fragte sie unvermittelt.
Er wusste sofort, was
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