Natürliche Selektion (German Edition)
nur hinzusetzen. Ruhelos tigerte sie durch die Wohnung, blätterte im Gehen in der neusten Ausgabe des ›Journal of Psychiatry‹, ohne zu begreifen, was sie las. Der einzige Gedanke, der sie beschäftigte war, dass sie seit zwei Stunden nichts mehr von ihm gehört hatte. Sie wusste selbst nicht, warum sie gerade dieser Einsatz Michels so ängstigte. Nach weiteren zehn Minuten hielt sie es nicht mehr aus. Sie griff zum Telefon und wählte seine Nummer. Lange meldete sich niemand. Mit jedem Summton nahm ihre Sorge zu. Als endlich jemand antwortete, glaubte sie, ihr Herz klopfen zu hören.
»Hallo?«, sagte eine unbekannte Frauenstimme.
»Ich möchte bitte Michel sprechen«, antwortete sie mit bebender Stimme.
»Das ist das Handy von Dr. Michel Simon. Wer sind sie?«
Beinahe hätte sie mit einem Schimpfwort geantwortet, aber sie zwang sich zur Ruhe und stellte sich mit Namen und Titel vor. »Ich bin seine Verlobte«, flunkerte sie. Sie hörte eine Weile nichts. Lange, zu lange, dann endlich meldete sich eine männliche Stimme:
»Bonsoir Docteur, ich bin Dr. Lanier.«
Sie spürte einen Stich in der Brust. »Doktor?«, unterbrach sie atemlos. »Ist etwas mit Michel?«
»Madame, ich fürchte, ich habe Ihnen eine sehr traurige Mitteilung zu machen. Sie sind Psychiaterin, sagen Sie?«
Sie fühlte, wie sie die Kraft verließ. Leichenblass fiel sie aufs Sofa. Sie hatte Ähnliches schon oft gehört und selbst gesagt. »Ist er tot?«, fragte sie tonlos.
»Ja Madame. Es tut mir leid, wir konnten nichts mehr tun. Er ist an einer Schussverletzung ...«
Weiter hörte sie nichts mehr. Sie hatte aufgelegt. Die Welt um sie herum begann sich zu drehen. Sie blickte in einen tiefen Abgrund, einen Trichter, unergründlich, bodenlos dunkel wie seine Augen. Schneller und schneller fiel sie in den alles verschlingenden Schlund, das Schwarze Loch, das sie in ihr altes Universum zurück katapultierte. Diesmal endgültig, für immer.
KAPITEL 6
Butte aux Cailles, Paris
I rgendwo spielte jemand Klavier am offenen Fenster. Akkorde, Sequenzen, ja einzelne Anschläge, die Leo gut kannte. Frédéric Chopins Nocturne in cis-Moll mit den verträumt dahinplätschernden Wellen der linken Hand, die sie anfangs zur Verzweiflung getrieben hatten. Sie hörte eine Weile mit geschlossenen Augen zu. Der milde Abend kündete vom nahen Frühsommer. Die Zeit, in der sie ihr häusliches Leben wieder weitgehend auf diese kleine Terrasse über dem Kopfsteinpflaster der Butte verlegen würde.
Sie drückte Michels Hand fester. Für solche Momente musste der Komponist diese wunderbaren Stücke geschrieben haben. Vollkommenes Glück. So etwas gab es nicht, und doch, was wollte sie mehr, als hier mit dem Liebsten zwischen den Topfpflanzen ihres Paradiesgärtchens unter dem Blätterdach der Platane die Mühsal des Tages zu vergessen.
Seine Hand fühlte sich anders an als sonst: nicht samtweich und warm, kalt und knochig wie die eines alten Mannes. Erschrocken öffnete sie die Augen, beugte sich über ihn. Sie wollte entsetzt aufschreien, als sie das eingefallene Gesicht, den ausgemergelten Körper auf der Liege neben ihr sah, aber sie brachte keinen Ton hervor. Fassungslos ließ sie seine Hand fahren, versuchte aufzuspringen, doch kein Muskel gehorchte ihr. Sie blieb bleischwer liegen, vermochte sich nicht zu rühren.
Der Hunger weckte sie mitten in der Nacht. Das feuchte Kopfkissen roch ekelhaft nach saurem Schweiß. Ein Zeichen, dass sie wieder schlecht geträumt hatte, obwohl sie sich an nichts erinnerte. Ein Wunder, dass sie überhaupt ein paar Stunden ohne Unterbrechung schlafen konnte. Sie schälte sich angewidert aus den klammen Laken und wankte in die Küche. Sieht aus wie in mir drin , dachte sie bitter, als sie die Kühlschranktür öffnete. Leer bis auf eine abgelaufene Milchtüte und die verrottete Erinnerung an einen Salat.
Zum ersten Mal seit der Nachricht vom gewaltsamen Tod ihres Geliebten spürte sie etwas wie gesunden Appetit, dachte sie ans Essen, ohne dass ihr gleich übel wurde dabei. »Du machst Fortschritte«, murmelte sie zynisch zu ihrem scheußlichen Spiegelbild über der Anrichte. Sie kannte die Symptome, und sie wusste, dass oft nur ein kleiner Schritt genügte, um in ihrer Lage in eine gefährliche Depression abzugleiten. Den wiedergefundenen Appetit begrüßte sie daher mit großer Erleichterung. Eine Schachtel mit Eiern lag neben dem steinharten Brot. Unberührt lag sie da, wie sie sie vor zwei Tagen gekauft hatte. Sie
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