Natürliche Selektion (German Edition)
goss etwas Öl in die Bratpfanne und wartete ungeduldig, bis das Eisen heiß genug war, dann schlug sie zwei Eier hinein. Das Eiweiß begann zu brutzeln. Der würzige Geruch des simplen Gerichts verbreitete sich in der Küche, machte Appetit auf mehr. Noch ein Ei landete in der Pfanne, dann ein viertes. Gierig löffelte sie schließlich die Spiegeleier direkt aus der Pfanne, das Festmahl am Ende der langen Fastenzeit.
Das Zeitgefühl war ihr seit Michels Tod weitgehend abhanden gekommen. Nichts schien mehr wichtig genug, als Ereignis oder Zäsur wahrgenommen zu werden. Die Stunden flossen gleichförmig dahin, leer und langweilig, sinnlos aber unaufhaltsam. Unbegreiflich, dass sich um sie herum scheinbar nichts verändert hatte seit er nicht mehr da war. Nicht der leiseste Grauschleier hatte sich über ihre Welt gelegt. Die Möbel in ihrer Wohnung glänzten in den gewohnten, lebendigen Farben. Das Sofa in ihrer Praxis leuchtete im alten, frechen Blau. Dabei sollte ihre Umgebung doch in Schutt und Asche versinken. Nichts von dem geschah, nichts änderte sich, und das war unerträglich. Oft kam es ihr vor, als gehörte sie nicht mehr hierher, eine fremde Besucherin im Museum ihrer eigenen Vergangenheit. »Gefährlich, Leo, denk an die Zukunft«, musste sie sich immer wieder einreden. Welche Zukunft? Als wäre der Verlust ihrer großen Liebe nicht genug, begann sie mit einem Mal alles zu hinterfragen, was sie bisher als selbstverständlich angenommen hatte. Was sollte das alles? Was machte sie hier?
Selbst ihre Arbeit in der Psychiatrie schien ihr plötzlich nicht mehr wichtig. Musste sie sich früher anstrengen, stets den nötigen professionellen Abstand zu ihren Fällen zu wahren, fiel ihr das jetzt leicht. Die Anteilnahme am Schicksal ihrer Patienten endete bei der medizinischen Analyse. So hatte sie auch die schreckliche Nachricht vom Suizid des Familienvaters, den sie seinerzeit als geheilt entlassen hatte, lediglich zur Kenntnis genommen. Ihr Beruf war keine exakte Wissenschaft, tragische Irrtümer unvermeidlich. Sie war nur noch Beobachterin, nicht mehr Teil dieses Systems. Es war nicht ihr Universum. Michels Tod hatte sie in ein Paralleluniversum geschleudert, das gleich aussah wie ihres, in dem doch alles ganz anders war.
Sie spülte den salzigen Geschmack der Eier mit dem Rest des lauwarmen Wassers aus der Flasche auf dem Küchentisch hinunter. Noch einmal öffnete sie den Kühlschrank, um die übriggebliebenen Eier zu versorgen. »So geht es nicht weiter«, murrte sie angesichts der Leere. Sie entsorgte die abgelaufene Milch und klappte die Tür wieder zu. Sie musste sich allmählich an das neue Leben gewöhnen, wieder lernen, sich in diesem Museum zurechtzufinden. Vorräte einkaufen war immerhin ein Anfang.
Cimetière du Père-Lachaise, Paris
Audrey ahnte nicht, dass die drei jungen Frauen neben ihr vor wenigen Monaten schon einmal fast an der gleichen Stelle gestanden hatten. Aufgekratzt, mit klopfendem Herzen, nicht hemmungslos schluchzend wie heute. Damals galten ihre Sehnsucht und die schmachtenden Blicke dem jungen Chirurgen, den die Bestatter jetzt im Sarg vor ihren Augen zur letzten Ruhe betteten. Eine schier unüberschaubare Menschenmenge verfolgte die Zeremonie auf dem Père-Lachaise. Erst hatte sie ihre Mutter gar nicht bemerkt. Sie stand nicht wie erwartet zuvorderst am Grab, als trauernde Witwe sozusagen, sondern unscheinbar abseits wie eine unbeteiligte Zuschauerin.
Die Beinahekatastrophe in Tricastin hatte tagelang dicke Schlagzeilen geliefert, daher wohl der große Andrang bei Michels Beerdigung. Zum ersten Mal hörte sie vom Vorfall, als die Antiterror-Einheit ausrückte. Wie andere Leute auch, erfuhr sie erst aus der Pressekonferenz, dass es beinahe zur Kernschmelze durch menschliches Versagen gekommen wäre. Die Folgen: unvorstellbar, nicht nur für das Rhonetal und die Stadt, in der sie lebte. Was sie jedoch viel mehr beschäftigte, war der Name Michel Simon. Dr. Michel Simon, Chirurg aus Paris, wie ihre Mutter ihn vorgestellt hatte. Sofort rief sie Leo an, doch sie erreichte sie nicht. Leo nahm keine Anrufe mehr entgegen. Erst nach einigen Telefonaten mit den ermittelnden Beamten und den Arbeitskollegen in der Salpêtrière hatte sie Gewissheit. Leo musste am Boden zerstört sein. Keine Beinahekatastrophe, eine ausgewachsene Katastrophe war ihrer Mutter zugestoßen. Es tat ihr unendlich leid, dass sie sich damals derart abweisend und beleidigend verhalten hatte, aber jetzt war es zu
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