Natürliche Selektion (German Edition)
hielt ihr grinsend die Tür auf, machte eine einladende Handbewegung und antwortete: »Schlimmer. Ganz im Vertrauen, Audrey. Dr. Muehlberg ist ein guter Arzt und die ärgste Nervensäge, die ich kenne. Wenn etwas nicht nach seinem Kopf geht, ist er gleich auf hundertachtzig. Ihm fehlt die gewisse Coolness.«
»Im Gegensatz zu Ihnen, wie? Eitel scheint er auch zu sein.«
Edmonds Grinsen wurde noch breiter, wenn das überhaupt möglich war. »Den ersten Teil will ich überhört haben, aber recht haben Sie trotzdem«, antwortete er. »Was Muehlbergs Eitelkeit betrifft, kann ich Ihnen versichern, dass er selbst einen Lagerfeld schlägt. Muehlberg ist die wandelnde Allegorie der Selbstherrlichkeit. Eines Tages wird er wohl seine Spiegel durch Fotos aus der Jugendzeit ersetzen. Spätestens wenn er das erste Fältchen entdeckt.« Er setzte sich auf die Schreibtischkante und bot ihr seinen Sessel an.
Sie lehnte lachend ab. »Ich will Sie nicht aufhalten, Edmond. Ich bin nur gekommen, um mich zu bedanken.«
»Dann haben Sie sich also doch nicht in der Tür geirrt. Ich fürchtete schon, sie suchten wieder Leo. Aber im Ernst, Audrey, es gibt keinen Grund, mir zu danken. Ich bin froh, dass ich mich nicht geirrt habe.«
Sie schaute ihn nachdenklich an. »Ich glaube, Sie kennen meine Mutter besser als ich«, murmelte sie.
»Das glaube ich nicht, aber ich kenne ihre Gewohnheiten. Es war nicht das erste Mal, dass Leo den Ort besuchte, der für einen Patienten eine besonders wichtige Rolle spielte, positiv oder negativ.«
»Wie auch immer, es war sehr nett von Ihnen, mich zu ihr zu fahren.« Sie streckte ihm die Hand entgegen und verabschiedete sich: »Danke.«
Wie elektrisiert sprang er auf, erwiderte den Händedruck, als wollte er sie festhalten. »Gerne – jederzeit«, beeilte er sich zu versichern. »Keine Zeit für einen Kaffee?«
Sie schüttelte den Kopf. Irrte sie sich, oder lag eine Spur Enttäuschung in seinem Blick? »Leo wartet schon«, sagte sie, und es war nichts als die Wahrheit.
Sie musste im Vorzimmer zu Leos Praxis warten. Ein gutes Zeichen, glaubte sie. Die Routine der täglichen Arbeit würde ihr bei der Verarbeitung des schrecklichen Ereignisses helfen. Umso heftiger erschrak sie, als sie Leos graues Gesicht sah. In wenigen Stunden schien sie um Jahre gealtert. In der Praxis setzte sich Audrey auf das blaue Sofa, doch die heftige Reaktion ihrer Mutter ließ sie wieder hochfahren, als hätte sie sich auf die Hauskatze gesetzt.
»Nicht dieses Sofa! Das ist für die Patienten«, bedeutete ihr Leo aufgebracht.
»Entschuldige – ich wollte nicht ...«
»Ach, schon gut. Ich muss mich entschuldigen. Ist heute nicht mein bester Tag.«
Audrey musterte sie misstrauisch. »Alles in Ordnung mit dir?«
»Rhetorische Frage, nicht wahr?«, lächelte Leo matt.
»Was ist los? Du hast doch was. Rede mit mir!«
Leo ging zum Schreibtisch an den Computer und winkte sie heran. »Hier, das habe ich, wenn du es so genau wissen willst.«
Auf dem Bildschirm war ein Textdokument geöffnet, das im Wesentlichen aus medizinischen Fachausdrücken bestand, die sie allesamt nicht kannte. Trotzdem begriff sie, welche Art Dokument sie vor sich hatte. »Ein Obduktionsbericht«, bemerkte sie. »Kannst du mir bitte auf Französisch erklären, was das alles bedeutet?«
»Das ist schnell gesagt. Es ist der Befund, den man bei Michels Freund Patrick festgestellt hat«
»Der ASN-Inspektor, der alles ausgelöst hat?«
Leo nickte. »Patrick Fournier, der durchgedreht hat, um es französisch auf den Punkt zu bringen. Nach den Aussagen der Betriebsleitung von Tricastin scheint er unter schweren Bewusstseinsstörungen gelitten zu haben, Halluzinationen würdest du wohl sagen. Die Obduktion hat ergeben, dass sein Gehirn von der gleichen mysteriösen Plaque befallen war wie das seiner zwei Freunde, die sich vorher das Leben genommen haben.«
Audrey schaute ihre Mutter verständnislos an. Sie sprach immer noch in Rätseln. »Drei Selbstmorde? Welche Freunde? Mysteriöser Belag? Was ist daran mysteriös? Ich verstehe kein Wort.«
Leo seufzte: »Es ist eine lange Geschichte.« In Gedanken versunken blickte sie auf ihren Bildschirm, als suchte sie Rat. Dann begann sie zögernd zu erzählen. Zum ersten Mal hörte Audrey von der geheimnisvollen Lebensform, von den unerklärlichen Suiziden. Sie begann Zusammenhänge zu sehen, die ihr kalte Schauer über den Rücken jagten, und doch verstand sie genauso wenig wie Leo, was wirklich hinter dem
Weitere Kostenlose Bücher